Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch
und inmitten der sandigen Ebene auf der Landebahn aufsetzte, als sie aus dem Flugzeug stieg, die scharfe kalte Morgenluft einatmete, wunderte sie sich einmal mehr, dass in dieser ausgedehnten Oase eine Stadt lag.
Vor der weiß getünchten Fassade des zweistöckigen Hotels mit seinen weinrot lackierten Fensterrahmen leuchteten Sonnenblumen, Vergissmeinnicht, Ranunkeln, Stockrosen, Tagetes und Rittersporn in satten Farben, in gepflegten Beeten gediehen Blumenkohl, Kartoffeln und Karotten.
Sonja trank von ihrem Tee. Gleich würde Samten eintreffen, der Leiter ihrer hiesigen Agentur, um das Programm für diese Reise mit ihr zu besprechen. In Gedanken ging sie die Tour durch, da trat er schon an den Tisch.
»Julley, Madam Sonja.«
Sie begrüßten einander mit einer Umarmung, plauderten über ein paar Belanglosigkeiten. Es war Sonjas erste Tour nach Ladakh in diesem Jahr und sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen. Sonja mochte Samten. Er war zuverlässig und sie schätzte seine charmante und kluge Art, den Gästen sein Land zu zeigen. Samten würde die Gruppe begleiten, sich in den Klöstern darum kümmern, dass man alle interessanten Räume besichtigen konnte, und wenn möglich Sonderwünsche der Kunden erfüllen.
»Wie viele Leute haben wir in der Gruppe, Madam Sonja?«
Samten bestand auf der formellen Anrede, obwohl Sonja ihn oft gebeten hatte, sie einfach beim Vornamen zu nennen. »In unserem Land respektieren wir die älteren Menschen«, hatte er ihr erklärt. Die Älteren! Sonja schmunzelte beim Gedanken an seine Worte. Dabei lag ihr fünfzigster Geburtstag kaum ein Jahr zurück; zum Glück war sie auf einer Tour durch die Mongolei gewesen, sodass sich das wohlmeinende Drängen ihrer Freunde auf eine angemessene Party erübrigte und Sonja diesen Termin dezent übergehen konnte. Sie räusperte sich und kam auf Samtens Frage zurück:
»Zusammen mit uns beiden sind wir zu zehnt. Damit reichen zwei Autos.«
Es war eine klassische Kulturrundreise geplant. Jahrhundertealte Klöster, in denen bis heute reges Mönchsleben stattfand. Spaziergänge durch Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben war, wie das Programm versprach. Eine Exkursion zu Nomaden im Hochland an der Grenze zu Tibet.
»Können wir wieder Verwandtschaft von dir besuchen? Damit die Leute ein bisschen Kontakt zu den Einheimischen bekommen?«
»Ich gebe meiner Cousine Pema Bescheid, sie ist eine gute Gastgeberin«, versprach Samten. Außerdem wollte er die Gruppe morgen bei ihrem ersten Rundgang durch die Stadt begleiten.
Nachdem er gegangen war, überflog Sonja noch einmal die Liste. Die Gruppe bestand aus zwei Ehepaaren und vier Alleinreisenden: drei Frauen, ein Mann.
Sie machte sich auf dem Zimmer kurz frisch, zog ein paar Bürstenstriche durch ihr widerspenstiges dunkelbraunes Haar, dann kehrte sie zurück in den Garten, um ihre Kunden zu empfangen. Sie hatten geruht, eine Dusche genommen, einige berichteten, sie hätten bereits die Koffer ausgepackt. Nun rückten sie sich die Stühle unter den Sonnenschirmen zurecht. Ohne Umstände entspann sich eine lockere Unterhaltung, schließlich wollten die Reisegäste einander beschnuppern, einen ersten Eindruck bekommen von diesen Menschen, mit denen man nun drei Wochen verbringen würde.
Herr und Frau Schneider, beide in mittleren Jahren, erzählten von ihrer Safari in Namibia im vergangenen Jahr und von der Rundreise durch Thailand im Jahr zuvor. Nun also der Himalaya – über Ladakh kämen gerade viele Berichte im Fernsehen, erklärte Herr Schneider zufrieden, dieses ehemalige Königreich müsse man schon einmal gesehen haben. Er blätterte im Reiseprogramm. Seine Frau nickte ihm bisweilen zu, wirkte allerdings zurückhaltend.
Daneben saßen Verena und Heinz Volkers, pensionierte Lehrer. Sie bereisten vorwiegend Europa, gern auch Hochkulturen in Südamerika oder eben in Asien. Herr Volkers überließ seiner lebhaften Frau das Wort und lächelte derweil freundlich in die Runde. Sie waren beide von rundlicher Statur und stellten grinsend klar, dass sie keinerlei sportliche Ambitionen hegten. Auf Wanderungen würden sie gern verzichten, solange man mit dem Auto ebenso ans Ziel komme.
Cornelia reiste allein. Während ihr Mann am liebsten Rennradtouren unternahm, interessierte sie sich für asiatische Länder, erzählte sie. Cornelia war die auf den ersten Blick unscheinbarste Teilnehmerin der Gruppe, sie würde sich anpassen, dabei unverbindlich und langweilig bleiben, vermutete Sonja. Dann Heidrun, eine zierliche Frau mit kurzen grauen Haaren. Heidrun mochte um die sechzig sein, wirkte allerdings jünger. Ständig schien sie in Bewegung. Schließlich Günter, hochgewachsen und schmal, in mittlerem Alter. Etwas an ihm war seltsam, Sonja konnte sich nicht erklären, was sie an seiner Ausstrahlung irritierte.
Jule, mit Mitte zwanzig eindeutig die Jüngste der Gruppe, erschien als Letzte. Klare graue Augen, braune Kurzhaarfrisur. Ein aufgeschlossener Mensch, sie wird sich in Ladakh wohlfühlen, überlegte Sonja, während Jule auf dem Stuhl neben ihr Platz nahm und entspannt ihre langen Beine in der engen Jeans ausstreckte.
»Es ist fantastisch, ich sitze hier mitten im Himalaya. Gibt es hier eigentlich WLAN?« Zufrieden blinzelte Jule gegen die Sonne und Sonja folgte ihrem Blick zu den Bergketten hinüber. In den oberen Regionen glänzte es weiß. Sie nickte. »Ja, es gibt WLAN, das Passwort bekommst du an der Rezeption. Und der Gletscher dort drüben ist der Stok Kangri, ein Sechstausender. Das Basislager ist nicht weit von hier.«
»Nein, danke schön! Mir genügt der Blick von unten«, stellte Jule lakonisch fest.
Sonja grinste. »Mir auch.«
Wie bei jeder Gruppe war Sonja auch dieses Mal gespannt auf die Herausforderungen der Reise. Sie hatte immer schon ein Gespür für Menschen gehabt und es mit den Jahren professionell weiterentwickelt. Sie täuschte sich nur selten mit ihrer ersten Einschätzung, und diese Gruppe schien nach jetzigem Ermessen keine größeren Probleme zu bereiten.
Inzwischen klagten Cornelia und Frau Volkers über Kopfschmerzen und Schwindel, übliche Symptome der ungewohnten Höhenlage, und Sonja empfahl den beiden, noch eine Weile zu ruhen. Margit Schneider und Heidrun unternahmen einen Spaziergang durch den Garten, machten anerkennende Bemerkungen zum Gemüse und zu den Blumen. Jule setzte sich auf die andere Gartenseite, um den Blick auf die Berge zu genießen.
Silbernes Abendlicht hatte sich über das Tal gelegt, die schneebedeckten Spitzen der Bergkette glitzerten in blassem Rosa, als Sonja später durch den Garten lief, um Lobsang zu besuchen, den Eigentümer des Hotels. Sie war mit ihm seit vielen Jahren befreundet, seit die Agentur die Gruppen hier einquartierte. Lobsang wohnte mit seiner Frau und den beiden Kindern im alten Bauernhaus. Der vordere Teil des Grundstücks mit dem Hotel war eingegrenzt durch ein paar Apfelbäume und Weiden, nicht weit dahinter stand das Bauernhaus. Die zwei Hündchen von Lobsang, zerzauste Fellknäuel in Weiß und Hellbraun, tollten mit spitzem Gebell um die Gartenstühle, als sie sich dem Haus näherte. Lobsang stand an der Tür. Er rief nach den Hunden, kam aber, als er Sonja sah, mit offenen Armen auf sie zu. »Willkommen, Sonja. Ich warte seit Stunden auf dich.«
Sonja zuckte lachend die Schultern. »Du weißt doch – der erste Tag! Was macht die Familie?«
Amüsiert registrierte Sonja, wie Lobsang nochmals in die Hände klatschte und so lange pfiff, bis die Hündchen endlich nach drinnen flitzten. Das Haus war ganz nach Sonjas Geschmack. Behagliche Lehmbauweise, ein alter Holzboden und Zimmerdecken aus Pappelästen, wie man sie in allen traditionellen Bauten fand.
»Seit die Mädchen in Chandigarh auf der Schule sind, ist das Leben für Rinchen und mich einsam geworden. Sie ist übrigens heute auf der Geburtstagsparty einer Freundin und lässt dich schön grüßen.« Lobsang führte Sonja ins Wohnzimmer und bot ihr einen der schweren gepolsterten Sessel an. »Nimm dir bitte Kekse«, er deutete zur Kristallschale auf dem Glastisch, »ich hole Tee für uns.«
»Nein, lass nur, bitte keinen Tee.« Sonja winkte ab.
»Aber Sonja, kein Alkohol heute. Du weißt doch, nicht am ersten Tag …«, scherzte er, darauf anspielend, dass die beiden schon die eine oder andere Runde zusammen getrunken hatten.
»Nein, Lobsang, ich meine, gar nichts zu trinken«, erwiderte Sonja lachend, »weder Cola-Whisky noch Tee. Verschieben wir das auf morgen,