Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch
des Dachs erfüllte noch weitere Zwecke. Auf mittlerer Pfostenhöhe war ein kleines Brett angenagelt, auf dem ein Kamm aus Yakhorn, eine Zahnbürste sowie ein trüber Handspiegel lagen – die komplette Badausstattung.
Ich nahm eine Holzschale vom Regal und füllte Buttermilch ein. Sie schmeckte frisch und säuerlich, Mutter hatte sie am Morgen zubereitet. Gerade ließ ich mich vor einem Tischchen nieder und zupfte ein Stück vom Brotfladen ab, um es in die Buttermilch zu tunken, als Api hereinkam. Sobald sie mich sah, breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus. »Nunu, mein Junge, iss ordentlich, du musst Hunger haben.«
»Api, wirst du nach Leh gehen? Warum hast du mir nichts gesagt?«, erwiderte ich vorwurfsvoll.
Mit einem langen Seufzer ließ Api sich neben mir nieder und legte ihre faltige knochige Hand auf meinen Kopf. »Du hast recht, Nunu. Ich gehe morgen nach Leh.« Sie nahm ihre Wollmütze ab, die sie rund ums Jahr trug, und kratzte sich ausgiebig den Kopf.
»Du hast versprochen, mich einmal mit in die Stadt zu nehmen«, beschwerte ich mich. Api und ich waren doch Verbündete, wie konnte sie ein Versprechen nicht einhalten?
»Dein Vater sagt, er braucht dich für die Tiere. Deshalb kannst du nicht mit.«
Ich ließ den Kopf hängen. Ich würde Api vermissen. Api war für mich der wichtigste Mensch auf der Welt. Niemanden habe ich so innig geliebt wie sie und sicher liebte kein anderer Mensch mich so bedingungslos wie Api. Vielleicht lag unsere spezielle Beziehung darin, dass wir beide aus demselben Holz geschnitzt waren. Api konnte stur sein wie ein Esel, sie war derber als ein Mann und konnte mindestens ebenso viel Chang trinken. Und sie hatte ein Herz aus Gold. Was uns am meisten verband, war wohl unsere Furchtlosigkeit. Api hatte vor nichts und niemandem Angst und auch ich war für mein Alter ziemlich mutig. Es gefiel ihr, dass ich so frech war. Deshalb stand ich unter Apis Schutz, wenn Vater wieder einmal allzu streng mit mir umsprang.
»Nunu, komm jetzt, kratz mir mal den Rücken. Da juckt es gewaltig«, befahl sie mir unwirsch, sie mochte keine Sentimentalität. Also fuhr ich mit meiner kleinen Hand in den Halsausschnitt ihrer Goncha und kratzte konzentriert über ihren Rücken. Voller Behagen seufzte Api, bis sie genug hatte und mir mit rauer Stimme Einhalt gebot: »Schluss jetzt, du ziehst mir noch das Fell ab, Junge.«
Nach und nach kamen die anderen Mitglieder unserer Familie herein, meine Geschwister, Vater und schließlich Mutter. Yangchen hatte inzwischen den Ofen angefeuert, aus dem jetzt dicker Qualm quoll. Dann übernahm Mutter den Sitzplatz vor dem Ofen. Es dauerte nicht lange, bis sie sich ihre Augen rieb, wegen des beißenden Rauchs. Yangchen legte durch das Seitenloch ein paar Dungfladen nach, und der Qualm wurde noch schlimmer. Ich hatte mich neben Api zusammengerollt und lauschte träge den Gesprächen.
»Das Metallteil ist vom Rechen abgebrochen«, erzählte Vater, während er ein Stück Holz zurechtschnitzte. Hin und wieder ließ er seine Arbeit ruhen und trank einen Schluck Tee, dabei prüfte er sein Werk. »Was ist mit der Kuh? Sie ist längst überfällig mit dem Kalben«, fragte er Mutter, die am Herd in einem Topf herumrührte. Es würde wieder Nudelsuppe geben mit Gemüse aus unserem Garten, wo Kartoffeln, Karotten, Erbsen, Zwiebeln, Spinat und Rettich wuchsen.
»Sie wird immer apathischer, ich weiß auch nicht, hoffentlich ist alles in Ordnung«, erwiderte Mutter.
»Das wird ein Bulle, wenn er so lange überfällig ist«, warf Api ein und zwinkerte mir zu. »Vielleicht kriegst du bald deinen Bullen, Nunu.« Ich wünschte mir schon lange einen kleinen Bullen.
Api hockte im Schneidersitz auf ihrem Stammplatz am vordersten Sitz neben dem Ofen, schließlich stand ihr als der Ranghöchsten der Anwesenden dieser Platz zu, und drehte ihre Gebetsmühle. »So, Yangchen, jetzt hol mir meinen Chang«, beorderte sie meine Schwester, die neben Mutter am Herd hockte und die Karotten säuberte.
»Dann leg deine Gebetsmühle beiseite!«, fuhr Vater dazwischen. »Gebete an den Buddha und Chang passen nicht zusammen. Jedenfalls nicht gleichzeitig.«
Manchmal stritt mein Vater mit Api, weil für sie alles Mögliche zusammenpasste, was andere für unpassend hielten. Aber heute wollte sie offenbar keinen Streit anzetteln. Api wusste, ihr Sohn mochte es nicht, wenn sie allein in die Hauptstadt ging. Mit einem Knall platzierte Api ihre Gebetsmühle auf das Tischchen, als Yangchen ihre Tasse füllte. Sie tauchte die Spitze ihres rechten Ringfingers in die milchigweiße Flüssigkeit und schnippte dreimal in die Luft: nach oben, nach vorn und zur Erde hin. Es war ihre Gabe an die Götter des Himmels und der Erde, die offenbar auch Chang mochten. Dann trank sie das Glas in einem Zug leer. »Wohin gehst du jetzt wieder, Yangchen, du sollst mir nachschenken.«
Meine Mutter wiegelte bei solchen Streitgesprächen immer ab und wechselte das Thema: »Das Wasser auf unseren Feldern ist knapp. Man muss dem Churpon Bescheid geben, dass er den Kanal abends länger offen hält.«
Vater nickte, er würde am nächsten Tag mit ihm reden.
Nach dem kurzen Zwist lag wieder diese ruhige, beständige Wellenbewegung im Raum, entspanntes Geplauder über die Vorkommnisse des vergangenen Tages.
Das Abendessen wurde im Sommer spät fertig, denn das Kochen fing erst an, wenn alle Arbeiten auf den Feldern und mit den Tieren erledigt waren. Der lange Tag hatte mich müde gemacht, die Stimmen entfernten sich, ich döste schon ein, bis ich einen kalten Gegenstand in meiner rechten Hand spürte.
»Komm, Nunu, iss noch etwas Thukpa, dein Magen knurrt so laut wie der Hofhund draußen.«
Unter Apis Ermunterung schlürfte ich schlaftrunken ein paar Löffel heiße Suppe, und während mir die Augen wieder schwer wurden, hörte ich Mutter sagen: »Habt ihr schon gehört: Der kleine Tundup von der Mon-Familie soll zur Schule gehen. Nun braucht Onkel Angchuk einen anderen Hirten.«
»Der Junge von einem Trommler geht zur Schule. So ein Unfug, das kann nicht sein«, erwiderte Vater.
Dann fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Spaziergang in Leh
Mit pochenden Kopfschmerzen lag Sonja im Bett, während Bilder auftauchten, die sie lange schon aus ihrer Erinnerung verbannt hatte. In diesen Stunden jedoch drängten sich vergessene Szenen, fragil und flüchtig, an den Rand ihres Bewusstseins. Fünfundzwanzig Jahre. Sie hatte tatsächlich lange nicht mehr an ihn gedacht. In der ersten Zeit aber, nach jenem Sommer, hatte sie in einer Endlosschleife die Szenen der wenigen gemeinsamen Wochen vor- und zurückgerollt. Auf der Suche nach einem Hinweis darauf, warum er an jenem Morgen einfach verschwunden war, wie ein Schatten und ohne ein einziges Wort der Erklärung. Nie hatte sie eine Antwort gefunden, und irgendwann war sie des zermürbenden Nachforschens, der fruchtlosen Grübeleien müde gewesen. Wie Zeit die Wahrnehmung verschob! Längst hatte ihre Gefühlslage sich entspannt. Nun aber gestand sie sich widerstrebend ein, dass in all den Jahren, wann immer sie diese Berge betrachtet hatte, ein stummes Echo in ihr mitschwang, ein Nachhall versäumten Glücks.
Noch bevor das erste Sonnenlicht sich über ihre Bettdecke ergoss, war die Geschichte wieder da. Die Verliebtheit, die ihr Flügel verliehen hatte. Mit Citta zusammen fühlte sie sich ganz, sobald sie getrennt waren, ertrug sie die Sehnsucht kaum. An diesem Morgen sah sie sein Gesicht wieder vor sich, fühlte förmlich seinen weichen, kräftigen Körper.
Jetzt also trat er wieder in ihr Leben. Unvermittelt und ungefragt. Nach einem Vierteljahrhundert! Mit einem Stapel von Hand beschriebener Seiten, in denen er sein Versprechen einlöste. Ich werde dir mein Leben erzählen, hatte er gesagt und vorsichtig ihre Hand genommen, wenn du das möchtest. Natürlich hatte sie gewollt. Damals. Alles hatte sie wissen wollen von ihm. Jetzt allerdings überlegte sie, ob sie die Briefe einfach wegwerfen sollte. Diese Geschichte war doch bereits abgeschlossen. Aus und vorbei. Hatte sie jedenfalls gemeint.
Im Widerstreit ihrer Gefühle kämpfte sie gegen den rasenden Puls und das Herzklopfen an, das ihr schier den Atem nahm. Wie sollte sie in diesem Zustand einer heiteren, neugierigen Reisegruppe