Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch
gab es zum Glück einige Leute im Dorf, zu denen etwa Onkel Angchuk und meine Api gehörten, die sich darum überhaupt nicht kümmerten.
Ich erinnere mich, wie der kleine Trommler eines Tages mit einer Flasche Chang und einem Katak in unserem Garten stand. Ob er wohl einmal mit Api sprechen könne, fragte der Trommler zaghaft meine Mutter, die ihn zufällig hatte kommen sehen.
»Was willst du?«, fragte Mutter argwöhnisch, Apis großzügige Art war weithin bekannt.
»Ein Dzo möchte ich kaufen«, erklärte der Trommler kurz darauf, als er mit Api in der Küche saß. »Meine kleinen Felder können meine Familie nicht ernähren. Mit einem Dzo als Lastenträger dagegen kann ich einen Handel mit den Nomaden im Changtang aufbauen.«
Api hörte interessiert zu.
»Tausend Rupien für ein Dzo, Api, nur ausleihen. Du bekommst dein Geld bald zurück.«
»Gib dem Mon-Ashang das Geld«, befahl sie Mutter, die dem Gespräch aus sicherer Entfernung zugehört hatte.
Mutter wand sich. »Dem Mon willst du Geld leihen?«
»Genau!«, antwortete Api harsch. »Er will rechtschaffen Handel treiben und er hat das Recht auf eine Chance. Und du, Mutter, sammelst Verdienste für deine gute Wiedergeburt, wenn du ihm dabei hilfst«, fügte sie spöttisch hinzu. Api schaute Mutter scharf an.
So musste Mutter notgedrungen ihre schwarze Metallbox öffnen, in der sie ihren ganzen Reichtum verwahrte: den Perak, ihre Halsketten und ein wenig Bargeld. Zögerlich holte sie den Schlüssel aus ihrer Goncha, sperrte das Schloss auf und zählte widerstrebend das Päckchen abgenutzter Scheine ab. An diesem Abend war die Stimmung in unserer Küche nicht entspannt.
Schon wenige Tage später brachte der Mon ein wuscheliges schwarzes Dzo ins Dorf und führte es stolz meiner Api vor. Und Mutter erhielt tatsächlich ihr Geld ratenweise zurück, wobei der Mon ihr immer ein Stück fette Yakbutter oder Käse von den Nomaden mitbrachte.
»So funktioniert Karma«, sagte Api zufrieden, während sie sich an den Geschenken erfreute. »Wenn du Gutes tust, kommt Gutes zurück. Jede Handlung sollte auf Mitgefühl beruhen«, lehrte Api.
»Nur mit Mitgefühl ist meine Truhe schnell leer«, wandte Mutter ein. »Vernunft muss schon auch dabei sein.«
Vater fasste das Thema schließlich in einen Satz: »Weisheit ohne Mitgefühl ist herzlos. Mitgefühl ohne Weisheit ist kopflos. Deshalb sagte der Buddha, Weisheit und Mitgefühl gehören unauflöslich zusammen.«
Buddha Maitreya
Das schrille Klingeln des Weckers riss Sonja aus einem tiefen traumlosen Schlaf und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, wo sie sich befand. Trotzig zog sie die schwere Zudecke noch einmal bis zum Kinn hoch, dehnte kostbare Minuten aus, bis sie endlich widerstrebend aus ihrem Bett kroch. Eine Katzenwäsche unter kaltem Wasser im Bad, dann kleidete sie sich an, zog eine dicke Fleecejacke über das T-Shirt und verstaute Cittas Briefe in ihrem Koffer. Auf ihrem Weg die Treppen hinunter zur Lobby lag das Hotel still da, auch in der spärlich auf Nachtbetrieb beleuchteten Eingangshalle meinte Sonja allein zu sein, täuschte sich allerdings, wie sie im selben Moment feststellte.
»Hallo, Sonja, sind Sie auch schon fit? Es ist herrlich am frühen Morgen, nicht wahr?«
Im Dunkeln erkannte Sonja Heidrun, die zu ihr herüberwinkte. »Wenn ich nur wüsste, wo mein Fernglas steckt«, fuhr Heidrun munter fort. »Ein Fernglas kann man doch immer brauchen, nicht wahr?« Sie stöberte in ihrem grünen Tagesrucksack, während Sonja so knapp, wie es ihre Berufspflicht vorschrieb, doch betont heiter zurückgrüßte, bevor sie in die Küche flüchtete. Für Smalltalk war es eindeutig zu früh.
Ramu hatte noch am Abend versprochen, dass die Lunchpakete pünktlich um sechs Uhr gepackt seien. Sonjas Blick glitt über die blanken Tischreihen in dem dunklen Speisesaal. Kein einziges Lunchpaket. Ein Anflug von Missmut zog auf, verflüchtigte sich aber umgehend, als sie die Küche betrat, wo drei Küchenboys den Arbeitstag vorbereiteten. Ramu war trotz seines jungen Alters der Chef der Küche, seit vielen Jahren im Dienst des Hotels und die gute Seele des Personals.
»Ramu, es ist schon spät, ich hoffe, du hast die Lunchpakete nicht vergessen.«
»Guten Morgen, Madam Sonja, no problem. Alles ist fertig.« Ramu stand am Herd und rührte in einer riesigen Eisenpfanne. Er strahlte sie an und deutete hinaus zur Lobby, wo sorgfältig aufeinandergestapelt die Lunchboxen auf dem Tresen standen. Sonja hatte sie auf ihrer Flucht vor Heidrun einfach übersehen.
»Magst du ein Omelette?« Er wusste, dass Sonja gern gemeinsam mit dem Personal in der Küche saß und Omelette mit Tomatenstücken und roten Chilischoten aß.
Dankbar nickte Sonja und balancierte ihren Teller in den Speiseraum hinaus. Während sie ihren Toast in das Omelette tunkte und mit dem scharfen Essen ihre Lebensgeister erwachten, fiel ihr ein: Bis vor Kurzem wäre ihr Zorn vermutlich über den armen Ramu niedergegangen, noch bevor er die Situation hätte aufklären können.
Es war kein Zufall, dass es Sonja in ihren Abenteurerjahren immer nach Asien gezogen hatte. Aufenthalte in tibetischen Klöstern, Yoga in Südindien, Meditationen an den Ufern des Ganges. Gleichmut üben, Gelassenheit entwickeln. Große Ziele hatte sie gehabt, um ihre Rastlosigkeit und Ungeduld in den Griff zu bekommen. Im Laufe langjähriger Meditationspraxis war ihr das mit eher mäßigem Erfolg gelungen. Nun aber stellte sie fest, dass eine neu gefühlte Friedfertigkeit in ihr aufkeimte, ohne dass sie begriff, welcher Impuls diesen Erkenntnisprozess in Gang gesetzt haben mochte. War sie bereits auf die Zielgerade zu tiefgründiger Weisheit eingebogen, oder hatte die lange Zeit in Asien sie schließlich zu der Einsicht geführt, dass es ihrem Wohlbefinden diente, eine unabänderliche Situation anzunehmen? Jedenfalls empfand sie diesen Zustand durchaus als angenehm. Sonja lächelte Ramu an, während sie einen dritten Toast aus dem Brotkorb nahm.
»Wie geht es deiner Familie?«
Sie kannte Ramus Familie seit vielen Jahren aus Erzählungen. Seine ältere Schwester war verheiratet, die beiden Brüder gingen noch zur Schule. Um deren Ausbildung und einen passablen Lebensstandard für die Eltern zu finanzieren, kam Ramu über den Sommer als Küchenboy in dieses Hotel.
»Alles bestens, Madam Sonja. Mein Bruder hat die Aufnahmeprüfung für die High School in Kathmandu geschafft. Er will Ingenieur werden«, setzte er stolz hinzu, bevor er die Lunchpakete nahm und zu den beiden cremeweißen Geländewägen brachte, die vor dem Gartentor warteten.
Die Gruppe nahm ein kurzes Frühstück ein, schließlich wollten alle pünktlich zu dieser Puja im Kloster ankommen. Erst auf dem Weg zu den Autos bemerkte Sonja, dass Günter fehlte. Sie hastete die Treppen hinauf zu seinem Zimmer. Nach einigem Klopfen öffnete er die Tür, zwar angekleidet, murmelte aber, dass er verschlafen habe. Man möge bitte warten, bis er gefrühstückt habe, was Sonja kategorisch ablehnte. So musste er im letzten Moment mürrisch und mit vorwurfsvollem Blick ins Auto springen.
Sie verließen die Stadt und bogen ins Tal des Indus ein, begleiteten diesen hellbraunen Fluss, während die ersten Sonnenstrahlen ins Tal fluteten. Endlich kam jene Stelle, die Sonja liebte: Auf einer weiten Ebene standen Dutzende Chörten, übermannsgroße Pyramiden. Im hellen Tageslicht schneeweiß, jetzt aber im Übergang von der vergangenen Nacht zum Versprechen eines kommenden Tages erschienen sie als farblose Silhouetten. Mystisch, unerreichbar, voller Rätsel. Faszinierend im Zwielicht zwischen Morgen und Tag. Schließlich ist auch unsere sogenannte Wirklichkeit niemals nur dreidimensional, sinnierte Sonja, während die Wagen einen massiven Felsen aus hellgrauem Granit umrundeten. Nun präsentierte sich, erhaben auf einem Felsenhügel, eine Komposition von massigen Gebäuden und im selben Moment die Schönheit dieser Klosteranlage. Willkommen im Kloster von Thikse! Die Mönchsklausen, ineinander verschachtelte weiße Würfel, gruppierten sich unterhalb der wuchtigen Klosterräume am Hang. Nach dem obligatorischen Fotostopp stiegen sie am Parkplatz aus, dehnten und