Feuerkuss und Flammenseele. Eileen Raven Scott

Feuerkuss und Flammenseele - Eileen Raven Scott


Скачать книгу
führte.

      Ilvio ging ohne zu zögern den Pfad entlang. Auf einmal öffneten sich die Felsen, und er stand oben am Klippenrand, hoch über seiner Welt. Als die Sonne aufging und das Meer glitzern ließ, flog ein Schwarm Seemöwen laut kreischend über seinen Kopf hinweg. Ilvio warf den Kopf zurück und lachte. Er ließ sich auf das Gras fallen und sah einfach in den Himmel, folgte den Wolken mit seinen Blicken und staunte über all die Farben, die durch den Himmel wanderten. Zuerst dunkles Blau, dann ein roter Schimmer wie von Seesternen, und dann hatte der Himmel eine so strahlend blaue Farbe, wie er sie noch nie gesehen hatte. Zumindest kam es ihm so vor. Die unendliche Weite und die klare Luft nahmen ihm den Atem.

      Seine Gedanken begannen zu wandern, zusammen mit den Wolken. Wohin sie wohl zogen? Noch nie war er allein an Land gegangen. Sonst kam immer seine Tante mit. Aber sie teilte nicht seine Meinung, dass sich etwas ändern musste.

      Eine melodische Stimme riss ihn aus seinen Tagträumen.

      „Oh? Besuch?“ Ein leises Lachen ertönte.

      Ilvio schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und drehte den Kopf. Audrey! Eine der wenigen Menschen, die von den Meereselfen wussten. Wobei Audrey streng genommen kein Mensch mehr war, sondern ein Geist. Natürlich, sie wohnte immer noch an diesem Küstenabschnitt, das letzte Mal hatte er sie allerdings auf der anderen Seite der Küstenstadt gesehen.

      „Schön, dich wiederzusehen, Ilvio“, sagte Audrey und setzte sich ihm gegenüber in das Gras. Sie nickte zum Meer. „Ein berührender Anblick, nicht wahr? Möglicherweise ist es dieser Anblick, der mich an diese Welt fesselt.“ Sie richtete den Blick zum Horizont. Ilvio schmunzelte, sie und er wussten genau, dass es nicht nur am Sonnenaufgang lag, dass Audrey immer noch hier war, obwohl sie längst gestorben war. Sie hatte sich einfach entschieden zu bleiben, genau wie ihre Eltern, die den Geisterhügel hinter der Küstenstadt bewohnten.

      Mit einiger Belustigung begriff er plötzlich, wieso sie ihn nicht ansah. Er war nackt, bis auf die paar Seealgen, die er sich um seine Lenden geschnürt hatte.

      „Bleibst du länger?“, fragte Audrey. „Ich könnte dir eine Hose beschaffen, und vielleicht ein Hemd.“

      „Das wäre wunderbar“, sagte Ilvio. „Ich möchte nach London. Du hast mir doch schon oft von der Hauptstadt erzählt. Gibt es dort gute Musik?“

      Audrey lachte. „Aber ja! Was suchst du genau?“

      „Das werde ich erst sicher wissen, wenn ich es höre“, überlegte Ilvio. „Bei uns ist alles so eintönig geworden. Wir brauchen etwas Neues.“

      „In London wirst du es bestimmt finden. Es gibt dort andauernd Konzerte, Partys, Musikgeschäfte, alles Mögliche. Komm mit, ich habe alles in den Hügeln gehortet, was du brauchst.“

      Kapitel 3

      Ein schrilles Klingeln riss Aruni aus dem Schlaf. Müde rieb sie sich die Augen und starrte auf ihren Wecker. Dann streckte sie den Arm aus, um das nervtötende Klingeln auszuschalten. „Mist, schon Zeit zum Aufstehen“, sagte sie zu Ash, schlug die Decke zurück und quälte sich aus dem Bett.

      Nach einer heißen Dusche sah die Welt deutlich freundlicher aus. Das Wasser war natürlich weniger heiß als Feuer, für ihre menschliche Haut so aber auch viel angenehmer. Aruni machte Ash Frühstück und aß selbst ein paar Bissen von dem Curry, das sie am Vortag gekocht hatte.

      Vor dem Spiegel zog sie sich an und türmte ihre Haare zu zwei kleinen Knoten, die sie um ihre Hörner schlang. Darum wickelte sie zwei schwarze Satinbänder. Als sie fertig war, verzog sie den Mund. Nicht direkt schön, aber zumindest einigermaßen unauffällig und praktisch. Sie sah sich nach ihrer Katze um.

      „Bis später, Ash. Ich hoffe, Lierd wird dich nicht stören, aber ich weiß, dass er dich eigentlich mag.“

      Ash miaute verneinend und Aruni musste lächeln. „Doch, bestimmt. Ich muss los. Mach keine Dummheiten!“ Sie streichelte Ash über den Rücken und verließ ihre kleine Wohnung.

      Die Luft war kühl und die Sonne noch nicht aufgegangen. „Abscheulicher Herbst“, dachte sie im Stillen. Zu kalt und eindeutig zu nass. Wehmütig erinnerte sie sich an die heißen Sommertage. Sie zog ihren Mantel enger um sich und schlenderte die Straße entlang. Die Geschäfte waren alle noch geschlossen. Kaum jemand war unterwegs. Ein Mann im dunklen Trägerhemd mit knallroten Haaren, die wirr in alle Richtungen standen, torkelte vor ihr gegen eine Laterne und hielt sich daran fest, als ob er mit ihr tanzen wollte. Doch nach ein paar wiegenden Schritten, klammerte er sich nur noch fest und wankte gefährlich.

      Schon aus zehn Schritten Entfernung roch sie den Alkohol in seinem Atem. Er hatte trotz des kühlen Wetters nackte Arme und als sie näher kam, schaute sie auf die Tätowierungen auf seiner Haut. Bei einer rot gehörnten Teufelin in Stöckelschuhen, Korsage und Strapsen musste Aruni grinsen. Das leibhaftige Abbild von Flame. Aber Flame kam nie in die Menschenwelt. Genaugenommen kam fast niemand von ihrer Familie in die Menschenwelt, seitdem ihre Mutter einmal diesen „Fehlgriff“, wie sie es nannte, mit Arunis Vater gehabt hatte.

      Aruni stieß mit dem Fuß gegen etwas. Es schepperte, eine leere Cola-Dose flog in hohem Bogen durch die Luft und traf den Mann an der Wade. Der Tätowierte drehte sich zu ihr um und fluchte.

      „Entschuldigung“, rief Aruni und lächelte versöhnlich. Er starrte sie einen Augenblick an, dann verschwamm sein Blick wieder und er torkelte in die andere Richtung davon. Aruni seufzte und überquerte die Straße. Die Passage war noch verschlossen, also ging sie außen herum, an der Mauer zum Kanal entlang und an den bunten Häusern vorbei. Petunia war schon dabei, ihren Stand aufzubauen. Bunte Wimpel hingen an einer Leine. Darunter stapelte sie gerade allerhand Anhänger, Taschen mit Spiegeleinsätzen und ein paar Bücher über Engel und Hexenkräuter. Als sie Aruni sah, winkte sie.

      Aruni blieb stehen und rief: „Bist du heute Abend auch auf der Party?“

      „Na klar!“, gab Petunia zurück.

      „Dann sehen wir uns dort!“ Aruni hob ihre Hand zum Abschied und ging weiter.

      Gegenüber im Cyberdog dröhnte schon laut die Musik. Im dunklen Inneren konnte Aruni die schmale Verkäuferin sehen, die sich wie ein Roboter auf Ecstasy bewegte. Alles wie gewohnt.

      Ein Geruch nach Plastik und Staub schlug Aruni entgegen, als sie den Laden betrat, in dem sie arbeitete. Sie machte die Tür weit auf und ging an den Ständern mit Bekleidung in den Farben Schwarz, Weiß und Rot vorbei. Am Wandkalender riss sie das Blatt von gestern ab und zog eine Grimasse. Heute war der 31. Oktober und damit Halloween. Das bedeutete Ärger. Irgendwo unter ihren Füßen in den höllischen Katakomben ihrer Familie würde die Hauptzeremonie stattfinden, und sie hatte überhaupt kein Verständnis zu erwarten für ihr Fernbleiben. Bestimmt würde Lierd auch heute noch einmal vorbeischauen, um einen weiteren Versuch zu machen, sie zur Teilnahme zu überreden.

      Wenn ihre Familie nicht gewesen wäre, hätte sie Halloween richtig genießen können. Eigentlich mochte sie diesen Tag, noch schrägere Gestalten als sonst verirrten sich in ihren Laden, zusammen mit Horden von Touristen. Und auf den Straßen würde jede dunkle Kreatur aus London zu sehen sein, sobald die Sonne untergegangen war. Kreaturen aus der Unterwelt und solche, die gerne welche sein würden. Denn unter die verkleideten Menschen mischten sich jedes Jahr munter Vampire, Dämonen von anderen Stämmen und sogar Geister und Phantome, die jedoch für die meisten Menschen unsichtbar sein dürften.

      Jemand kam herein, Aruni drehte sich um. Ein hagerer Typ mit ziemlich weißer Haut, schwarzer Lederkluft, langem wehenden Mantel und rot gefärbtem spitzem Kinnbart betrat den Laden. Die Spitzen seiner künstlichen Hörner schimmerten wie Silber. Seit Neustem beobachtete Aruni unter ihren Kunden den Trend, sich solche künstlichen Hörner unter die Haut pflanzen zu lassen. Dieser hier hatte zwischen Tribal-Tattoos auf seiner Kopfhaut gleich einen ganzen Kreis von verschieden großen Metallhörnern. Unweigerlich musste sie lächeln. Wenn der wüsste!

      Er ging langsam an den Röcken und Lederwesten entlang. Aruni wartete und ließ ihn nicht aus den Augen. Nach einer Viertelstunde Herumschlendern


Скачать книгу