Masaryk. Adolf Jens Koemeda
und der fremden Umgebung.
Die Pflichten meines Berufslebens und die Ansprüche der Familie haben in der letzten Woche vorübergehend zugenommen, volle drei Tage kam ich nicht zum Schreiben. Heute galt es also, mich zuerst ein bisschen einzulesen, um den Faden zu finden. Manches musste ich wieder streichen; ja, die Unklarheit, welche Angaben Sie benötigen, Herr Durbach, ist momentan noch groß.
Fast zu groß. Sie ist so ausgeprägt, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt weiterberichten will.
Ehrlich gesagt, in diesem Augenblick eher nicht. Ich müsste in erster Linie doch wissen, ob es notwendig ist und wer das eigentlich braucht. Wissen Sie es? Vielleicht. Aber Sie sind vermutlich der Einzige. Kurz: Mir fehlen die Lust und die richtige Motivation … zu irgendetwas. Wobei, genauer betrachtet, die fehlen mir in letzter Zeit ganz allgemein. Meine Mutter, neunundsechzig, ein fitter und noch sehr aktiver Mensch, meint schon seit langem – da bist du, Laura, nicht die Einzige, so fühlen heutzutage viele Leute … ich glaube, uns geht’s zu gut.
Ja, ja, ich meckere. Das Meckern hilft nicht immer, aber oft, ich bin halt ein ausgesprochener Meckertyp. Diesen Zug von mir stellte man bereits in der Schule fest; nicht so schlimm, ich nahm es unaufgeregt und sachlich zur Kenntnis.
Ich habe bereits die zweite Pause eingeschaltet und mache nun doch weiter; nicht aber aus Überzeugung, dass es besonders wichtig wäre, was ich da schreibe. Im Augenblick ist mir für das Weiterberichten bloß der eine Grund bewusst: Ich habe es versprochen und ich erreiche jetzt niemanden, der mich von diesem Versprechen befreien könnte.
Meine Familie lebte also in Bayern. Zuerst eine Wohnung, dann ein gemietetes Reihenhaus mit Garten-Sitzplatz, nach etwa zehn Jahren der Kauf eines gemütlichen Einfamilienhauses. Dieser Lebensabschnitt soll allerdings nicht im Vordergrund meines Schreibens stehen, deshalb zurück nach Vojtyn und zu Blažeks.
Die Dankbarkeit spielte bei meinen Großeltern eine große Rolle. Aber bitte, nicht nur! Sympathie, ähnliche Interessen – offensichtlich stimmte bei den beiden Familien auch die Chemie. Am Anfang konnte meine Großmutter ohne Probleme über die Grenze reisen, danach gab es einen unschönen Papierkrieg und viele Erschwernisse.
Mama war bei unserer Abschiebung nach Deutschland etwa fünf Jahre alt, und sie verstand die Bindung ihrer Mutter an das ehemalige Elternhaus in Vojtyn nicht; sie war zeitweise regelrecht eifersüchtig und lehnte es ab, in das ehemalige Sudetenland mitzureisen. Erst viel später sah sie manches anders, mit Milena, der Tochter der Familie Blažek, fand sogar ein lauer Briefwechsel statt.
Aber: Das Reisen über die Grenze war nach etwa zwei weiteren Jahren nicht mehr möglich. Klar, es gab ab und zu auch Ausnahmen. Meine Mutter – im Unterschied zu ihrer Mama – akzeptierte es ohne Tränen.
Zum ersten Mal fuhr ich mit Mama nach Vojtyn im Jahre neunzig, knapp ein halbes Jahr nach dem Mauerfall. Ich freute mich.
Mamm hatte die erste Reise über die ehemalige Stacheldrahtgrenze schon drei Monate vorher alleine unternommen, und ihre Berichte darüber weckten meine Neugier; nicht übertrieben stark, und doch spürbar. Das Tal und das Haus kannte ich bereits von den vielen Schwarzweißfotos und ich wusste auch, dass Milena – Frau Blažek Junior, neuerdings Frau Mandlíková – einen Sohn hatte. Pavel.
Jetzt muss ich selbst kurz rechnen, Herr Durbach. Wie alt war ich damals? Siebzehn, nicht ganz. Aber bereits zwei oder drei Mal heftig verliebt gewesen, zugegeben, nie sehr lange.
Schöne Tage! Ich war froh, die viel besungene alte Heimat meiner Mutter endlich mit eigenen Augen zu sehen. Kleine Bäche, eine liebliche Landschaft und Wälder noch und noch – ähnlich hatte ich es mir auch vorgestellt. Und Mama lachte, tätschelte Blažeks immer wieder an Armen und Schultern und sprach so schnell und laut, wie ich sie selten gehört habe. Milena, Frau Mandlíková-Blažek, hatte von Anfang an Tränen in den Augen … na ja, ob alles wirklich so war, wie ich es jetzt beschreibe, weiß ich nicht mehr, die Richtung wird aber stimmen.
Milena, nur einige Monate älter als meine Mutter, war ursprünglich Krankenpflegerin gewesen, seit Frühling neunzig führte sie allerdings ein kleines Café-Restaurant. Wo? Ja, richtig! Bei uns, im Erdgeschoss unseres ehemaligen Hauses.
Wir hatten einen Tisch nur für uns, Milena wollte uns offensichtlich ihr Lokal im Betrieb zeigen: Bäuerliche Möblierung aus hellem Holz, an den Wänden Sprüche aus einem alten Bauernkalender und dazu Ölbilder – Berglandschaften – in üppig geschnitzten Holzrahmen; noch nicht direkt kitschig, doch hart an der Grenze.
Man lachte viel und zur späteren Stunde sang man natürlich. Es gab bald eine Stimmung im Raum, von der Mutter zu Hause oft gesprochen hatte – zugegeben, die Sitten dort sind schon anders als bei uns, zumindest in den Städten, die ich kenne.
Eine kleine Überraschung:
– Wir sollten, sagte Pavel, Mandlík Junior, ein halbes Jahr älter als ich – hier im Lokal lieber tschechisch sprechen.
– Wirklich … warum?, fragte ich.
– Ja, es wäre besser. Das weißt du doch, antwortete meine Mutter für ihn.
– Muss das sein, Mamm? Sag mir – warum?
– Ach, Laura, du bist noch jung … nicht alle Wunden von damals sind verheilt, vor allem bei den älteren Menschen nicht.
– So! Jetzt übertreibst du, Mamm!
– Für dich ist das kein Problem, kam Pavel meiner Mutter zu Hilfe. – Du sprichst beide Sprachen gleich gut.
– Gleich gut? Sag lieber gleich schlecht … brachte ich sofort meinen gewohnten Spruch, den ich in solchen Situationen gerne zum Besten gebe. – Aber richtig zuhause bin ich in keiner der beiden.
Leider lachte in dem Augenblick niemand. Auch wollte mir niemand meine betont selbstkritische Bemerkung ausreden, was ich erwartet hatte. Also gut: gleich schlecht!
Ich solle lieber tschechisch sprechen … nicht alle Wunden seien verheilt …
Stimmt das?, fragte ich mich, als ich im Auto saß und auf meine Mutter wartete. Ist das die Meinung der meisten Gäste in Milenas Lokal? Dass es in den ersten Monaten nach dem Kriegsende nicht überall so beinahe friedlich verlaufen war wie in Vojtyn, das wusste ich. Aber jetzt, mehr als sechzig Jahre danach, beschäftigen die alten Zeiten die Menschen immer noch?
Ich hupte. Ungern. Ein Signal muss ich der Mutter doch geben, dachte ich.
Und sie verstand es, schon zwei Minuten später stand sie neben dem Wagen.
– Saag mir, Mamm – wie ist das mit dem «Nicht-deutsch-reden», war das ernst gemeint?
– Bitter ernst, meine Liebe! Wir sind da im Grenzland, im tschechischen Pohraničí!
– Im Lokal saßen vorwiegend jüngere Menschen, die wissen von der Zeit nach dem Krieg wenig … und wollen vermutlich auch nicht viel wissen.
– Glaubst du? Da bin ich anderer Meinung, Laura.
Ich komme wieder ins Stocken. Soll ich hier weiterschreiben und mich einem Thema zuwenden, das Sie, Herr Durbach, gar nicht vorgeschlagen haben?
Meine Überlegung ist: Wenn wir bereits im Sudetengebiet mit seiner komplizierten Geschichte sind, darf ich doch dieses Kapitel nicht gänzlich auslassen … als Deutsche schon gar nicht. Ich versuche aber, unsere lange Debatte abgekürzt wiederzugeben.
– Du, Laura, sagte Mama und schaute mich kurz an, – du weißt nicht viel von der alten Zeit; unsere Gegend war überwiegend friedlich, auch nach dem Mai fünfundvierzig. Aber das war ein riesiges Glück, das wir da hatten.
Wir schwiegen ein paar Minuten. Zwei Kreuzungen.
– Die letzten Kriegstage waren schrecklich, fing sie wieder an. – Man schenkte einander nichts, brutal ging es auf beiden Seiten zu.
– Vae victis! Wehe dem Besiegten! Was die eingekesselten SS-Einheiten in Prag mit den aufständischen tschechischen Studenten angestellt haben, davon hast du sicher mal gehört, Mamm. Damals, unterhalb von Hradschin, im Hirschengraben … die Jelení