Masaryk. Adolf Jens Koemeda
schepperte. Ich wollte noch etwas bemerken, beherrschte mich aber und schwieg. Nur einmal schaute ich sie kurz an.
– Ist etwas?
– Nein, Mamm, es kam mir bloß in den Sinn, dass auch die Tschechen nicht zimperlich waren … die Volksgerichte in Landskron, zum Beispiel! Dass man die einheimischen Deutschen ins Löschwasserreservoir geschubst hat, das wirst du nicht leugnen wollen, davon gibt es zahlreiche Fotos.
– Moment! Das waren nicht die Tschechen. Es handelte sich vor allem um Svoboda-Soldaten aus der Slowakei. Verrohung, Verfall der Moral und der Menschlichkeit … das erlebt man am Ende eines Krieges oft. Und dieser Krieg war fürchterlich. Nur: Angefangen haben ihn weder die Tschechen noch die Russen.
Ich hätte aufhören sollen, und das fiel mir in diesem Augenblick schwer.
– Und der Todesmarsch der mährischen Deutschen im Mai von Brünn nach Österreich? Mehr als zehntausend Menschen verließen damals die mährische Hauptstadt. Und wie viele kamen an? Viele waren es nicht, die genauen Zahlen sind bis heute unbekannt. Man weiß bloß, dass einige Hunderte von Toten bei Pohořelice verscharrt wurden und mehrere Tausende am Straßenrand liegengeblieben waren.
Mama, die die ganze Zeit nur schlich, fuhr jetzt noch langsamer. Ich schaute sie wieder an; ihre Augen glänzten. Zuletzt hielt sie an. Sie wischte sich die Tränen weg und stieg aus.
Wir schwiegen. Die Mutter fing an:
– Ja, das waren schreckliche Zeiten. Auch unsere Verwandten aus Iglau waren damals dabei. Bis nach Österreich schaffte es kein Einziger.
– Mamm, ich bin nicht mehr zehn … warum sprichst du mit mir nie über solche Dinge?
– Warum? Wäre es gut gewesen? Hättest du das gewollt? Vielleicht ist Verzeihen wichtig … und noch eher Vergessen.
– Kannst du das, Mamm?
– Ach, Laura! Stell mir bitte nicht so schwierige Fragen!
3
Pavel – ein guter Junge
Die vier Tage in Vojtyn erlebte ich als eine intensive und abwechslungsreiche Zeit, für meine Mutter war sie wahrscheinlich noch viel spannender als für mich; diese Vermutung bestätigte sie mir zu Hause.
Halt! Hier sollte ich etwas über Milenas Sohn Pavel sagen: Großgewachsen wie seine Mutter, schlank, allerdings mit einem kleinen Bauchansatz; hellbraunes, dichtes Haar, Brillenträger; in Gegenwart seiner Mutter eher zurückhaltend; sein Deutsch klang zu meiner Überraschung beinahe akzent- und fehlerfrei.
Es gab aber etwas, das mich irritierte. Bevor er ein paar Worte sagte, schaute er mich lange an, dann guckte er plötzlich weg; er redete langsam, mit vielen Pausen und häufig ungewöhnlich leise.
Ich fragte Mama am Abend, wie sie das verstehe. Sie gab mir Recht, ein bisschen komisch sei es schon gewesen, sie meinte allerdings, es sei nicht seine Muttersprache, das dürfe man nicht vergessen. Sie wäre froh, wenn sie Englisch oder Französisch so beherrschen würde wie er Deutsch … doch doch, er sei ein guter Junge.
Was konnte ich dazu sagen? Nicht viel.
Der erste Brief von Pavel kam eine Woche nach unserer Tschechienreise.
Er habe inzwischen viel von meiner Familie gehört, stand darin, und die Fotos, die ihm seine Mutter gezeigt hatte, habe er sich immer gründlich und aufmerksam angeschaut; er habe sich bereits vorher ein Bild machen können – von mir, von der ganzen Familie Bennet. Dann aber, bei unserem Besuch, sei alles noch viel schöner gewesen, als er sich ausgemalt hatte. Hoffentlich sei ich nicht sehr enttäuscht gewesen, bei ihnen sei manches bescheidener als in Bayern, farbloser, ärmlicher. Das werde allerdings nicht lange so bleiben, alle seien interessiert am Aufbau. Die Zukunft von Tschechien …
Ich möchte jetzt nicht ins Fantasieren geraten, Herr Durbach, ich weiß bloß, sein Brief hat mich erfreut, stellenweise aber auch überrascht, ja, befremdet. Das Schwafelnde, Blumige, Weitschweifige fand ich nicht gerade toll.
Ruhig, mein Lieber, dachte ich, nur ruhig, komm langsam zurück auf den Boden. Dort bist du mir viel sympathischer.
Mama las den Brief ebenfalls, er bereitete ihr Freude.
– Ach was, sagte sie, – nimm alles so, wie man es nehmen muss: locker.
– Für mich ist das aber eine Erschwerung, ein Problem.
– Denk an Franz Kafka …
– Stopp, bitte! Ich ahne, Mamm, was du wieder auf der Zunge hast: «Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach einem Hindernis, vielleicht ist keines da» … so einfach ist das für mich leider nicht.
– Ich weiß, Laura. Die Menschen sind dort ein bisschen anders als wir, wahrscheinlich wundern sie sich auch über uns. Gott sei Dank kann man sich aussuchen, was man schätzt und mag.
Wirklich, kann man das?, hätte ich sie am liebsten gefragt. Wie tust du das? Nein, ich ließ es sein, Mama hätte ohnehin nur süffisant gelächelt und mit den Schultern gezuckt.
Nach dem ersten Brief erhielt ich noch zwei oder drei Mal Post von Pavel. Lange Texte, bildreich, es tat mir aber leid, ich konnte mit seiner blumigen Schreibe nichts anfangen. Meine Antwortbriefe bekam er zwar, in erster Linie nahm ich Bezug auf die mir gestellten Fragen. Von mir selbst erfuhr er nicht viel.
Es hing auch damit zusammen, dass es in unserer Familie ganz andere Sorgen gab. Der Großmutter Annemarie ging es gesundheitlich nicht gut. Sie war zuckerkrank, dazu taten ihr die meisten Gelenke weh; ja, sie sah schlecht aus und sie wünschte sich ein baldiges Ende.
Schon Anfang der Achtzigerjahre, damals kaum siebzig, hatte sie uns innigst gebeten, keine Geschenke für sie zum Geburtstag zu kaufen. Wozu?, sagte sie. Lesen könne sie kaum mehr, ihre Augen seien zu schwach. Sie gehe mit Mühe und nie ohne Schmerzen. Sie sterbe doch bald … dann lägen all’ die Schals, Blusen und Reiseromane herum.
Ob sie es im Stillen anders sah und ihre Sprüche nur eine Art der Alterskoketterie waren? Möglich. Faktum war: Sie lebte nach ihrer kategorischen Geschenkabsage noch fast zehn Jahre lang; für sie, denke ich, keine schlimme Zeit.
Als wir damals von Vojtyn zurückkamen – die Großmutter bereits neunundsiebzig, heutzutage kein biblisches Alter –, war es so weit. Geschwollene Beine, Wasser auf der Lunge, Atemnot; sie musste ins Spital gebracht werden. Wir besuchten sie dort jeden Tag, nach Hause kam sie allerdings nicht mehr.
Beim Begräbnis war unsere Kirche voll, sogar Milena reiste aus Tschechien an; ohne Pavel, der musste zu einem Historiker-Kongress in Brünn fahren. Er schrieb mir aber einen langen und ziemlich schwulstigen Brief, ich antwortete erst nach einigen Wochen.
Meine Mutter verhielt sich die ganze Zeit über sehr gefasst und tapfer. Wie schwer für sie alles war, merkte ich erst, als unsere Oma bereits unter der Erde lag. Vorher hatte sie alle wichtigen Dinge gut und pannenfrei organisiert. Mein Vater, ein unpraktischer Mensch, war für sie keine große Hilfe.
4
Pavel ist wieder Solist
Ich brauchte, Herr Durbach, diesmal eine längere Pause. Als ich nach einigen Stunden zurück an den Tisch kam, las ich – wie gestern – noch einmal die letzten Zeilen.
Vielleicht stimmt es gar nicht, was ich vorher erzählt habe: Wahrscheinlich habe ich auf den Brief von Pavel gar nicht geantwortet … möglich, es ist mehr als zwanzig Jahre her. Was ich allerdings mit Sicherheit behaupten kann: Unser Kontakt brach ab; keine Briefe, keine Telefonate und falls ich doch etwas von ihm hörte, war es dank meiner Mutter.
Sie schrieb Milena regelmäßig, ich glaube sogar, sie fuhr zwei oder drei Mal im Jahr zu ihr nach Tschechien. So weit war es ja nicht, mit dem Auto etwa zwei Stunden. Ob die dortige Gegend oder Milena selbst der wesentliche Energiespender für Mamas Reiselust waren – ich weiß es nicht, wir redeten nie darüber.
Studium,