Masaryk. Adolf Jens Koemeda
einzige Irritation war – nein, vielleicht nur eine Überraschung –, als Pavel ein kleines Heft aus der Jackentasche holte und nach einer höflichen Frage, ob er sich diese interessanten Erinnerungen notieren dürfe, tatsächlich mit dem Aufschreiben begann.
Diesmal hörte ich zum ersten Mal, dass er Geschichte studiert hatte, mit dem aktuellen Schwerpunkt die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und zwar in dem geografischen Raum der ehemaligen österreichischen k.u.k.-Monarchie. Er erwähnte Masaryk, Kramář und Beneš, und ich befürchtete, dass auch die Mutter mit dem Notizenkritzeln beginnen würde. So weit kam es aber nicht.
Wir tranken Punsch mit dem Kräuterschnaps aus Böhmen, und Mama bekam vor Freude und Aufregung rote Flecken auf den Wangen und am Hals.
Pavel musste nach etwa drei Stunden leider aufbrechen. Wenn es nach Mutter gegangen wäre, hätte er bis zum nächsten Morgen bei uns bleiben können. Ja, sie war von ihm ziemlich begeistert.
Als wir wieder alleine in unserem Wohnzimmer saßen, schwärmte sie weiter. Ich fürchtete allmählich, in dieser Dichte und Eindeutigkeit könnten ihre Worte nur kontraproduktiv wirken.
– Und jetzt stopp, Mama, sagte ich. Für heute reicht’s!
Ich zog mich bald in unsere kleine Wohnung im ersten Stock zurück.
Zu dem Handballmatch ging ich nicht, ich hatte also keine Ahnung, ob es wirklich stattgefunden hatte. In den Zeitungen sah ich weder vorher noch nachher eine Notiz von einem Gastspiel. Pavel fragte ich natürlich nicht. Wozu auch!
Nach Vojtyn fuhren wir erst im Frühling, Mitte Mai muss es gewesen sein, es blühte alles und die Welt war farbig wie seit dem Frühherbst nicht mehr.
Milena empfing uns diesmal besonders feierlich. Wir tranken mährischen Wein, lachten viel, die Stimmung war von Anfang an heiter. Die Mütter debattierten auf dem Sofa, später brachte Milena eine Flasche Becherovka auf den Tisch. Ich ging bald ins Dorf und wollte nach meinen alten Kameraden aus der Kindheit fragen.
Und Pavel?
Er machte sich inzwischen in der Küche nützlich, das fand ich gut. Am Mittagstisch stellte ich allerdings fest, dass Mama bezüglich meiner Scheidung schon alles ausgeplaudert hatte. Ich wunderte mich, ein bisschen verärgert war ich auch, biss mir aber bei unserer Heimreise auf die Zunge.
– Und? Gefällt er dir?, fragte mich Mama im Auto.
– Na ja, das beschäftigt mich gerade.
Meine Mutter ging wahrscheinlich davon aus, dass unsere Marcelka bald einen neuen Vater bekommen sollte, damit nicht alles auf meinen – genauer gesagt: vor allem auf ihren – Schultern lastete. Bei mir spielten noch andere Überlegungen eine wesentliche Rolle; auf Details will ich in diesem Bericht lieber nicht eingehen, Herr Durbach, ich bitte um Verständnis.
Im Prinzip … ja, ich konnte es mir mit der Zeit gut vorstellen: Pavel, mein neuer Lebenspartner.
Nicht alles lag, zugegeben, auf der idealen Linie, ich war aber auch keine Frau, die nur Handküsschen entgegennimmt und selbst einen halben Meter über dem Boden schwebt. Mir wurde bewusst, dass die Chancen einer Lehrerin über vierzig mit einem Kind im Schlepptau anders sind als bei einer dreißigjährigen kinderlosen Schönheit.
Und die Unterschiede in der Bildung? Pavel, ein Akademiker, Dr. phil., und ich eine Fachkraft mit Lehrerpatent von einer pädagogischen Hochschule?
Nein, dieses Faktum bereitete mir keine großen Sorgen. Gisela, eine alte Freundin von mir, behauptete sogar, dass heutzutage ein Doktortitel bei einer Frau die gleiche Minderung der Heiratschancen bedeute wie fünfundzwanzig Kilo Übergewicht netto. Gut, vielleicht ein bisschen übertrieben formuliert, aber etwas war sicher dran.
Schon am zweiten Tag unseres Besuchs tauchte die Frage auf, wo er stehe und wie er unsere Beziehung sähe. Bin ich für ihn nicht nur eine mögliche Gespielin, eine mögliche erotische Zugabe sozusagen, sondern auch eine potenzielle Lebenspartnerin? Nicht der Bildungsgrad, eher die Altersfrage und Sorge traten plötzlich in den Vordergrund. Ich bin fast so alt wie er, wurde mir wieder bewusst, bloß ein halbes Jahr jünger, nicht gerade viel. Spielt das für ihn eine wichtige Rolle? Schon jetzt ? Oder erst in fünfzehn oder zwanzig Jahren?
Für die nächsten Wochen nach unserer Begegnung entschied ich: keine Hektik, keinen Stress und vor allem keinen Aktionismus!
Zuerst mal abwarten und keine unnötigen Fragen stellen. Nur «Klid’ánko», wie die Tschechen zu sagen pflegen.
Abwarten, ja, das hatte ich vor. Wie lange aber? Wochen? Monate? Ein gutes Jährchen? Eines stand für mich fest: Du bist nicht die Erste, die schreibt.
Er meldete sich. Nach etwa zwei Wochen. Telefonisch. Wie es mir gehe, wollte er wissen, und ob daheim alle gesund seien … erst zuhause sei ihm bewusst geworden, wie er die ganze Zeit geplappert habe.
– Geplappert? Gar nicht, sagte ich. – Du hast nur auf Mamas Fragen geantwortet. Absolut korrekt.
– Gut. Aber du warst ziemlich schweigsam.
– Du übertreibst, Pavel! Möglicherweise ein wenig schweigsamer als sonst, gar nicht ungern. In der Schule spreche ich genug … dort erwartet man es von mir.
– Was unterrichtest du eigentlich?
Ich war froh, dass Mama nicht alles ausgeplaudert hatte. Ich berichtete, eher kurz; Pavel stellte noch weitere Fragen, und auch hier waren meine Antworten nicht besonders ausführlich. Ich versuchte eher, ihm den Ball zurückzuspielen – beim etwa dritten Versuch erfolgreich.
Ja, er unterrichte ebenfalls, sagte er, etwa dreißig Prozent Arbeitsverpflichtung, Erwachsenenbildung. Sonst arbeite er in einem Verlag und an einem Forschungsprojekt sei er ebenfalls beteiligt, das mache ihm zur Zeit am meisten Spaß.
– Geschichte?
– Ja, Geschichte. Vor allem die Zeitabschnitte nach der vorletzten Jahrhundertwende, die Jahre also, über die deine Mutter erstaunlich viel weiß.
Nach einer knappen Viertelstunde waren wir wieder bei Masaryk angelangt, was mir recht war. Hauptsache, es hatte nichts mit meiner Schule zu tun.
– Na ja, sagte ich: – Mama ist ein großer Fan von ihm, das hast du selbst bemerkt.
– Wie die meisten Tschechen. Deshalb auch meine Sorge, Laura. Das alte Masaryk-Bild wird man wahrscheinlich nicht korrigieren wollen.
– Korrigieren … glaubst du, dass es gelingen wird?
– Eben! Da bin ich mir nicht so sicher.
5
Besuch in Hoff
Ich bin Deutsche, eine Bayerin, und basta. In ländlicher Gegend aufgewachsen, damit habe ich keine Probleme. Wenn es bei uns ein Fest gibt und es sein muss, ziehe ich sogar ein Dirndl an, ganz frech, ohne Hemmungen. Dass ich als Kind gleich gut tschechisch gesprochen habe, weiß hier wahrscheinlich niemand.
Anders die Mama.
Die sitzt zwischen Stuhl und Bank und leidet oft: Im Winter mehr als im Sommer, wenn das Reisen einfacher ist. Der Vater versucht, sie immer wieder zu trösten, es hilft leider nicht viel. Jetzt, nach ihrer Pensionierung, zieht sie die alte böhmisch-deutsche Heimat häufiger an als vor zehn oder zwanzig Jahren. Es ist nicht nur eine Frage der größeren Zeitreserven, über die sie nun verfügt, es hängt vermutlich auch mit dem Alter zusammen, mit der Sehnsucht nach der unbeschwerten und sorgenlosen Zeit ihrer Kindheit.
Seit etwa einem Jahr reist meine Mutter einmal in zwei Monaten nach Vojtyn. Und sie liest – das ist nun völlig neu – tschechische Bücher, vor allem Klassiker der Moderne, zum Beispiel Nezval, Hrubín und Čapek … nein, noch keine brisante Gegenwartsliteratur. Historische Bücher interessieren sie ebenfalls mehr als früher, in erster Linie Werke aus der Masaryk-Zeit. Sie möchte mir oft spannende Passagen vorlesen, ab und zu bin ich dabei, häufiger suche ich allerdings eine passable Ausrede.
Ihre erwachte Tschechophilie ist, glaube ich,