Masaryk. Adolf Jens Koemeda
anschließendem einwöchigen Klinikaufenthalt; gut zwei Monate mit Krücken unterwegs.
Über all diese Stationen könnte ich jetzt Seiten füllen, ich mache es aber nicht. Ich versuche, mich lieber an die Vorgabe zu halten – wie wir es vor Ihrer Abreise, Herr Durbach, besprochen haben: Vojtyn, die ursprüngliche Heimat meiner Familie, alte Freunde. Und vor allem Pavel.
Wo soll ich nun beginnen? Vielleicht mit der Zeit nach meinem ersten Vojtyn-Besuch, also nach dem Tod unserer Großmutter.
Hugo.
Hugo war ein Berufskollege von mir, ein Ur-Bayer, nach einem Jahr Bekanntschaft heirateten wir. Wahrscheinlich ging damals alles zu schnell. Ich ahnte bald, dass wir es nicht schaffen würden, ich musste mit einem Scheitern rechnen. Aber warum eigentlich? Nun, das fragte ich mich nach dem schwierigen «siebten Ehejahr» auch.
Er war kein einfacher Mann. Viele Hobbys, unzählige Schulkameraden, zahlreiche Familienverpflichtungen; kein Wunder, er war hier in der Gegend aufgewachsen. Für mich und unsere Beziehung hatte er immer zu wenig Zeit, häufig gar keine. Und wenn wir einen Streit hatten – in den letzten Jahren oft –, war ich für ihn nur die «von drüben», «die Tschechin»: Zwar lustig, aber nicht so ordentlich, wie eine Frau sein sollte; oft unpünktlich und ziemlich unzuverlässig.
Wobei … ich will nicht behaupten, ich sei eine einfache und auffallend pflegeleichte Frau, ohne Kanten und Ecken, nur lieb und mustergültig anpassungsfähig. Nein, nein, mein Anteil am Scheitern unserer Ehe war groß, früher schätzte ich ihn auf fünf, jetzt auf fünfundvierzig Prozent. Hugo dagegen auf neunundneunzig; diese Zahl überraschte mich allerdings nicht.
Fast neun Jahre blieben wir zusammen. Wir bekamen ein Kind, Marcelka, sie wird bald acht, ein gescheites und weitgehend problemloses Kind; dieses Kapitel werde ich heute aber nicht aufschlagen, über Marcelka und unsere Sorgen mit ihr habe ich schon einmal ausführlich berichtet. Die schwierigsten Zeiten liegen, Gott sei Dank, bereits hinter uns, und die Pubertät steht uns erst bevor.
Kurz zu Hugo. Er war schon vor unserer Ehe drei Jahre lang verheiratet, und am Anfang sprach er oft von seiner Ex – nicht immer zu meiner puren Freude.
Lieb war sie. Vor allem aber schwierig: Sehr sprunghaft, labil, häufig Tränen und dann wieder eine laute Stimme oder der totale Rückzug – meistens habe er nicht gewusst, warum. Sie hatte, so Hugo weiter, zu ihrem Selbstschutz die Realität so zurechtbiegen müssen, bis sie sich den geschönten Umständen gewachsen fühlte. Für ihn nicht einfach. Wenn er endlich Ruhe haben wollte, musste er ihre adaptierte Realität annehmen … oder etwas zurechtrücken? Nein, das ging nicht, er hatte es oft versucht. Dann gab es nur Geschrei, Tränen und neue Vorwürfe. Er verlernte mit der Zeit zu diskutieren.
Haben Sie noch etwas Geduld, Herr Durbach? Ich bin gleich am Ende. Zuletzt kam nämlich der Clou: Bei mir, sagte er, sei er vom Regen in die Traufe geraten.
Was? Wie meinst du das? Ich war im ersten Moment entsetzt. Danach musste ich mir aber sagen, ganz falsch ist diese Meinung nicht, ein paar Gemeinsamkeiten gibt es da schon. Und später wieder: Schlimm! Diese Frechheit, diese Verkennung der Tatsachen! Gut, ich kann ab und zu auch laut sein, eher selten; in erster Linie dann, wenn ich auf meinem Recht bestehen muss, wenn ich mich nicht verschaukeln lassen will.
Einverstanden, im Augenblick übertreibe ich ein bisschen. Die goldene Mitte will ich noch suchen, vor allem in der Beziehung zu Pavel. Einfach ist das allerdings nicht.
Wenn ich es mir so überlege, ging die neue Phase unserer Freundschaft, die zweite Runde sozusagen, auf das Konto meiner Mutter.
Nach der Jahrhundertwende reiste sie – es dürfte mit ihrer Pensionierung zusammengehangen haben – immer häufiger nach Tschechien. Sie kam jedes Mal gut gelaunt und unübersehbar erholt zurück. – Wie schön, dass der Faden zu meiner alten Heimat nicht abgerissen ist!, verkündete sie oft mit strahlenden Augen.
Und sie hatte auch viel zu berichten. Von Milena, von ihrem Mann Alois, und natürlich von Pavel. Er schnitt jedes Mal gut ab, ja, hervorragend. Wach sei er, belesen, Geschichte interessiere ihn sehr, da wisse er enorm viel – auch von Tatíček Masaryk. Und höflich sei er, unterhaltsam … ein begnadeter Witzeerzähler dazu. Ein guter Junge!
Guter Junge … über vierzig. Na ja! Wollte sie, dass ich die gleiche Freude an ihm habe? Sicher. Aber lassen wir das!
Ich trotzte, schmunzelte und winkte ab. Oft musste ich sogar sagen: – Stopp Mama, mir reicht’s! Mit Pavel gehst du mir langsam auf die Nerven. Merkst du das nicht?
Und dennoch, die Berichte meiner Mutter hinterließen offensichtlich tiefere Spuren, als ich am Anfang wahrhaben wollte.
– Und was macht der Topjunge beruflich?, fragte ich eines Abends.
Mama war überrascht. Sie schaute mich kurz an und lächelte:
– Er arbeitet in einem Verlag, an einer Lektoratsstelle. In der Erwachsenenbildung ist er ebenfalls tätig. Und nebenamtlich trainiert er die Handball-Junioren in Nejdek.
– Was? Sportlich ist der tolle Typ auch?
– Sehr! Er war seinerzeit in der Mannschaft von Aussig an der Elbe, Nordtschechien-Meister. Und ich denke, die Trainerarbeit macht ihm Spaß.
– Verheiratet? Kinder?
– Das nicht. Aber eine Freundin.
– Kennst du sie?
– Nur vom Hörensagen; ich glaube, sie studiert noch.
Nach der Weihnachtseinladung – ein Besuch, der inzwischen zur Tradition geworden war – brachte Mama aus Vojtyn eine wichtige Neuigkeit mit: Pavel sei seit einigen Wochen wieder Solist, teilte Milena meiner Mutter mit; er habe sich von Andulka, seiner Freundin, getrennt. Für sie, Milena, sei das eine große Überraschung, denn sie habe den Eindruck gehabt, bei den beiden laufe alles gut. Tja, so leicht könne man sich täuschen!
Hoppla, eine tolle Nachricht, nicht uninteressant!
Ich bat meine Mama, von unserer Weihnachtsfeier ein paar Fotos nach Vojtyn zu mailen. Und sie solle bitte achtgeben, dass ich auf den Aufnahmen nicht unvorteilhaft aussehe.
Mutter schmunzelte: – Gut, Laura, das mache ich. Vorher zeige ich dir lieber die Fotos.
Das tat sie dann auch. Ich war mit keinem Bild besonders zufrieden, leider; wir mussten vor dem langsam altersschwachen Weihnachtsbaum ein Fotoshooting organisieren. Ich zog mich dezent-feierlich an, wir prosteten uns lächelnd zu, und der Vater knipste wie ein bestellter Profi.
Die Regie – wo, wie und vor allem was im Hintergrund stehen sollte – übernahm natürlich die Mutter.
Hat es genützt? Oder war es doch bloß ein Zufall? Ich hielt beides für möglich.
Er würde gerne am übernächsten Wochenende kurz vorbeikommen, schrieb er. Natürlich nur, wenn ich wolle und gerade Zeit habe. Er sei nämlich in unserer Gegend, seine Junioren hätten ein Freundschaftsspiel in Kossau, gar nicht weit von Hoff.
Die Mutter flötete am Telefon: – Eine tolle Idee, Pavel, das passt uns ganz gut … ich freue mich!
Ja, ich freute mich auch, gebe ich jetzt zu. Es war ein kurzer Besuch, aber eine schöne Begegnung.
Pavel brachte eine große Schachtel mit Quarkbuchteln, die seine Mutter für uns gebacken hatte, und dazu eine Flasche mit böhmischem Kräuterlikör; nein, Blumen waren nicht dabei. Mama bedankte sich überschwänglich und überschüttete ihn mit vielen Fragen. Er nutzte allerdings diese ideale Möglichkeit nicht aus, um viel über sich selbst zu erzählen, oder um sich in eine Trump-Heldenpose zu werfen. Nein, er tat es nicht, er ging also, ein wenig böse ausgedrückt, der Mama nicht auf den Leim.
Ganz im Gegenteil! Er zeigte Interesse an ihrem Schicksal, fragte viel, und ich war überrascht, was alles er bereits wusste. Seine Mutter hatte ihm offensichtlich schon manches über unsere Familie erzählt.
Mama nahm den Faden bald auf und sprach von Masaryk, Beneš, von den Nachkriegsjahren und von ihren Eltern. Pavel hörte aufmerksam zu, stellte weitere Fragen,