Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
schienen sie komplett mit dem Spielen aufzuhören. In den verbleibenden 80 Spielminuten kickten sie den Ball harmlos hin und her, scheinbar ohne jegliche Anstrengung zu unternehmen, einen Vorstoß in Richtung des gegnerischen Tors unternehmen zu wollen. Es wurde als solch eine Verhöhnung des Sports angesehen, dass die FIFA im Anschluss daran die Regeln dahingehend veränderte, dass alle letzten Spiele einer Gruppe simultan ausgetragen werden, damit solche Schummeleien in Zukunft nicht mehr passieren können. Der deutsche Fernsehkommentator Eberhard Stanjek war so verzweifelt über den Mangel an Bemühung, dass er fast zu weinen anfing: „Das, was hier passiert, ist eine Schande und hat mit Fußball nichts zu tun.“ Als deutsche Fans nach dem Spiel zum Mannschaftshotel fuhren, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, verschlimmerten einige Spieler die Angelegenheit, indem sie aus den Fenstern in den oberen Stockwerken Wasserbomben auf die Fans warfen.
Die deutschen Spieler zeigten keinerlei Schuldbewusstsein oder Reue bezüglich des ergebnisorientierten Spiels gegen Österreich. Sie hatten, abgesehen von dem, was man als „Fair Play“ bezeichnet, keinerlei Regeln gebrochen. Sie freuten sich, später das Halbfinale gegen Frankreich bestreiten zu können, in dem Torwart Toni Schumacher für den nächsten Skandal sorgte: Er schlug den französischen Stürmer Patrick Battiston bewusstlos, als er einen Ball am Rande des Strafraums abfangen wollte. Es war eine Attacke, nach der Battiston mit einer schweren Rückenverletzung am Boden liegen blieb. Schumacher hatte Battiston außerdem zwei Frontzähne ausgeschlagen und Battiston fiel ins Koma. Schumachers Reaktion auf die Verletzung war eine weitere Beleidigung. Er betrachtete den am Boden liegenden Franzosen mit gelangweilter Missachtung. Im Anschluss an das Spiel verschlimmerte er die Lage weiter, indem er bar jeder Gefühlsregung anbot, die Kosten für Battistons Zahnreparatur übernehmen zu wollen. Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich kühlten sich nach dem Spiel, das die Deutschen im Elfmeterschießen gewannen, merklich ab. Es blieb für Jahrzehnte in Frankreich eine strittige Angelegenheit. Das Ansehen in der Öffentlichkeit wurde durch einen weiteren Zwischenfall getrübt, als ein deutscher Spieler Journalisten mit Wasser überschüttete, nachdem in den Medien berichtet worden war, dass einige Spieler im WM-Vorbereitungscamp heftig getrunken hätten.
Gegen Ende der 80er sehnte sich das Land mit dem stolzen Fußballerbe nach neuen unverbrauchten Talenten. Fußballfans wollten das Spiel wieder lieben können. Und Spieler wie Klinsmann, der seine Tore mit ungebremster Freude feierte und Niederlagen so schwernahm, wie sie es auch taten, schien zu verkörpern, wonach viele Fans sich zu verzehren schienen.
Das Debüt gegen Brasilien
Klinsmanns harte Arbeit zahlte sich einmal mehr aus. Er hatte mit dem VfB Stuttgart 1987/88 einen ersten verlockenden Eindruck vom internationalen Fußball bekommen, als Stuttgart im UEFA-Pokal (heute UEFA Europa League) spielte. Klinsmann genoss die Gelegenheit, zwischen den Bundesligaspielen am Wochenende ins Ausland reisen zu können, um sich mit den besten Mannschaften Europas zu messen. Der UEFA-Pokal machte ihm Lust auf mehr Spiele, auf mehr internationalen Fußball.
Im UEFA-Pokal setzte sich der VfB Stuttgart in der ersten Runde erfolgreich gegen Spartak Trnava aus der Tschechoslowakei durch, musste sich aber in der zweiten Runde gegen Torpedo Moskau geschlagen geben. Klinsmann freute sich dennoch darüber, andere europäische Städte kennenzulernen und erinnert sich zum Beispiel gern an Moskau, wo er den Roten Platz zu sehen bekam. Er war entschlossen, das Beste aus den Reisen zu machen, fremde Städte kennenzulernen, und er schwor sich, das auch in Zukunft weiter zu tun. Er blieb diesem Grundsatz während seiner ganzen Zeit als Spieler treu und setzte dies auch als Trainer fort.
Klinsmann wurde im Herbst 1987 für die Olympiamannschaft nominiert, die auch als U-23 bekannt ist, weil die FIFA pro Mannschaft nur drei Spieler, die älter als 23 sind, für die Olympischen Spiele zulässt. Er war voller Enthusiasmus über die Chance, bei den Olympischen Spielen ein Jahr später spielen zu dürfen. Dank seiner starken Leistungen in der U-23 und beim VfB Stuttgart wurde Klinsmann von Beckenbauer auch in die Nationalmannschaft berufen.
Bei seinem ersten internationalen Auftritt für die deutsche Nationalmannschaft am 12.12.1987 gegen Brasilien in Brasília spielte Klinsmann über die volle 90-minütige Spielzeit in einem Spiel, das mit einem 1:1-Unentschieden endete. Es war der erste von Klinsmanns 108 internationalen Einsätzen für sein Land, die über die nächsten zehn Jahre folgen sollten.
Klinsmann an sechster Stelle aller deutschen Nationalspieler, bezogen auf die Zahl seiner Einsätze. Er spielte auch in dem Spiel gegen Argentinien vier Tage später, das die Deutschen 0:1 verloren. Klinsmann erntete in diesem Spiel, mit Diego Maradona als Counterpart, der damals als der weltbeste Spieler galt, positive Kritiken. „Es war beeindruckend, wie Jürgen sich da draußen behauptete“, sagte Beckenbauer über dessen Leistung in den zwei Spielen und fügte hinzu, dass Klinsmann seiner Meinung nach gezeigt habe, dass er den anderen Stamm-Stürmern, Rudi Völler und Klaus Allofs, ebenbürtig sei. Sechs Monate vor der EM im eigenen Lande war dies eine wichtige Bestätigung.
Nach zwei Freundschaftsspielen in Südamerika erhielt Klinsmann einen weiteren Eindruck von den Vereinigten Staaten und ihrer enormen Größe. Er flog nach San Francisco und von dort weiter nach Hawaii, während der Rest der Mannschaft zurück nach Deutschland geflogen war, um dort die Weihnachtsferien zu verbringen. Er hatte zwei engen Freunden, Stefan Barth aus seiner Zeit in Geislingen und seinem Mannschaftskameraden Rainer Zietsch aus Stuttgart, versprochen, sie auf Hawaii zu treffen. „Meine zwei besten Freunde und ich hatten einen gemeinsamen Urlaub geplant, bevor der Ruf in die Nationalmannschaft kam“, erzählt er. „Sie wollten schon immer nach Hawaii fliegen. Ich kannte mich damals in Geografie noch nicht so gut aus und sagte ihnen, dass ich ja schon in Südamerika sei und sie in Hawaii treffen könnte. Es war wie: Ihr Jungs seid schon da und ich treffe euch dann dort. Der DFB buchte also einen Flug von Buenos Aires nach Miami, von dort nach San Francisco und weiter nach Hawaii. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was auf mich zukommen würde. Es war ein langer Flug nach dem anderen. Aber so kam ich zum ersten Mal nach Hawaii. Wir hatten eine fantastische Zeit.“ Die drei sind auch heute noch eng befreundet: Barth ist der Geschäftsführer der Kinderhilfsorganisation Agapedia, die Klinsmann 1995 gegründet hat, und Zietsch ist der Leiter der Nürnberger Jugendfußballakademie.
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