Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
Klinsmanns Zielen für den Fußball in den USA.
Als jemand, der sich auch als Teenager schon viele Gedanken machte und immer überlegte, wie er Dinge besser machen könnte, war Klinsmann fest entschlossen, das Bestmögliche aus seiner Chance in der 1. Bundesliga herauszuholen. In den Monaten vor dem Wechsel in die höchste Liga war er keinesfalls träge oder selbstgefällig. Er wollte in der Bundesliga sofort einen guten Start hinlegen; auch unter dem Aspekt, dass dies vielleicht seine einzige Chance sein würde. Er war daher zu dem Schluss gekommen, dass es eventuell ein kleiner aber wichtiger Vorteil wäre, wenn er am ersten Tag des Saisonvorbereitungstrainings in einem Top-Trainingszustand erschiene. Bevor also die Saisonvorbereitung des VfB überhaupt offiziell begann, trainierte er während der Sommerpause für sich selbst besonders intensiv. „Ich wollte mit einem konditionellen Vorsprung zum ersten Training kommen“, erzählt er Roland Eitel.
Seine Entschlossenheit, das Bestmögliche aus sich und seinen Fähigkeiten herauszuholen und jede Gelegenheit zu nutzen, seine Erfolgschancen zu verbessern, zeigt sich auch sehr schön an dem Beispiel, dass Klinsmann vor seiner ersten Bundesligasaison sogar mit einem eigenen Sprintcoach arbeitete. Er wollte unbedingt seine Schnelligkeit verbessern, selbst wenn er nur den winzigen, vielleicht ausschlaggebenden Bruchteil einer Sekunde gewinnen würde. Dieses Extra-Sprinttraining war letztendlich nicht nur hilfreich für Klinsmann als Spieler, sondern mehr noch, Jahre später, für Klinsmann als Trainer, da es ihm die Augen für das Potenzial öffnete, das sich durch ein spezialisiertes Training ausschöpfen ließ.
Schnelligkeit ist besonders für einen Stürmer sehr wichtig und Klinsmann dachte, dass er schon recht schnell sei, um in Kombination mit seinem immer besser werdenden Instinkt zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle vor dem Tor zu sein. Aber bevor er sein Debüt in der Bundesliga beim VfB hatte, gab sein älterer Bruder ihm ungefragt einen Ratschlag, den Klinsmann zunächst mit wenig Begeisterung entgegennahm. Horst Klinsmann, Zehnkämpfer im örtlichen Sportverein, war aufgefallen, dass Jürgens Schnelligkeit gegen Ende der Spiele abzunehmen schien. „Als mein älterer Bruder mich spielen sah und ihm auffiel, dass ich nach einer Stunde müde wurde, sagte er mir eines Tages einfach: Weißt du, Jürgen, du hast keine Kraft im Oberkörper, und du verlierst gegen Ende des Spiels viel an Schnelligkeit, weil du müde wirst und deine Koordination beim Laufen schlechter wird. Du musst dein Laufen wirklich verbessern, weil du zwar Grundschnelligkeit hast, aber sie auf dem Platz nicht voll ausnutzen kannst.“, erinnert sich Klinsmann. „Und ich dachte: Wovon redet er? Aber er hatte recht. In jedem Spiel fing die gegnerische Mannschaft nach etwa einer Stunde an, mich herumzuschubsen, und ich verlor an Koordination. So begann ich zweimal die Woche zusätzlich mit diesem Coach zu trainieren.“
Der Lauftrainer seines Bruders, Horst Allmann, hielt zunächst fest, dass Klinsmann die Hundertmeterstrecke in 12,0 Sekunden lief. Anschließend arbeiteten sie daran, seine Technik und Kraft zu verbessern. Dies alles geschah heimlich, weil seine Fußballtrainer davon nicht begeistert wären. Klinsmann ließ sich von Allmann am Anfang eine Stoppuhr geben und arbeitete sowohl alleine als auch ergänzend zu den Trainingseinheiten beim VfB an seinen Sprints. Und ein Jahr später lief Klinsmann die gleichen 100 Meter in 11,0 Sekunden, eine ganze Sekunde schneller. „Wir haben die Zeiten genau gemessen, weil wir sichergehen wollten. Ich wollte wissen, ob es einen Unterschied machen würde“, erzählt Klinsmann „Ich begann mit einem Sprinttrainer zu arbeiten, um stärker und schneller zu werden. Aber meine (Fußball-)Trainer wollten es nicht. Also musste ich es machen, ohne dass sie davon wussten. Es half mir tatsächlich, sehr viel schneller zu werden. Ich bekam mehr Kraft in den Oberarmen und wurde gegen Ende des Spiels nicht mehr so viel herumgeschubst. Ich hatte am Ende mehr Kraft, und weil ich mit meiner Energie wesentlich effizienter umgehen konnte, hielt ich die 90 Minuten gut durch. Im Fußball passieren die meisten Dinge in den letzten zwanzig Minuten des Spiels. Also fing ich an, die Leute am Ende des Spieles in Grund und Boden zu rennen. Ich konnte sehen, wenn sie nach 70 Minuten müde wurden und ich sagte dann zu mir: Jetzt mache ich euch fertig.“
Es war für Klinsmann eine extrem wertvolle Erkenntnis, die bleibende Wirkung zeigte. Es ging nicht nur darum, schneller zu werden, sondern auch darum, Hilfe von einem spezialisierten Personaltrainer zu bekommen, lange bevor irgendjemand in der Bundesrepublik von diesem Konzept gehört hatte, und darum, einen kleinen aber wichtigen Teil des Spiels zu verbessern. Seine Philosophie ist es, dass diese schrittweisen Verbesserungen an irgendeinem Punkt entlang des Weges einen bedeutenden Effekt haben können, dass sie den Unterschied ausmachen können zwischen ein oder zwei Toren mehr pro Jahr und ein paar mehr gewonnenen oder verlorenen Spielen pro Jahr. Außerdem bestätigte es seine Theorie, dass jeder Spieler durch harte Arbeit und selektives Training von Verbesserungen in seinem Spiel oder seiner Fitness zu profitieren vermag, unabhängig davon, ob diese Verbesserungen groß oder klein sind. „Es war eine großartige Lehre, dass du hartnäckig sein musst“, sagt er. „Du musst dich durch Sachen durchbeißen, weiter daran arbeiten und bloß nicht aufgeben, nur weil die Dinge sich im Moment nicht in deinem Sinne entwickeln. In den USA gibt es diese Kultur, nach der viele Leute erwarten, dass sie sofort für ihre Anstrengung belohnt werden. Unglücklicherweise gibt es diese Einstellung in einigen Ländern, nach der die Leute erwarten, sofort belohnt zu werden. Manchmal braucht es aber Zeit. Und wenn du diese ganze Extraarbeit auf dich nimmst, wird es sich auf Dauer auszahlen.“
Er sagt, es sei frustrierend, dass einige seiner ehemaligen Mitspieler nicht immer in der Lage waren, das Beste aus ihrem Talent zu machen. Ebenso verwundert ihn eine schleichende Selbstgefälligkeit, die manchmal das Größerwerden junger Spieler in den USA und anderswo verhindert, wenn sie ein bestimmtes Leistungsniveau erreicht haben. Was ist aus dem Antrieb geworden, der sie zunächst überhaupt so weit gebracht hat? Wo ist der Hunger geblieben, die nächste Stufe erreichen zu wollen?
Was das Spiel in den USA braucht, sind Spieler, die ständig nach vorne drängen, auch nachdem sie einen gewissen Erfolg erlangt haben. Was ist bei der, wie Klinsmann sie manchmal nennt, „Facebook-Twitter-Instagram“-Generation aus dem Killerinstinkt geworden? „Das ist für mich manchmal schwer zu verstehen“, sagt er. „Wenn du Spielern sagst, was sie besser machen können oder woran sie arbeiten sollen, antworten sie, dass sie verstünden. Man hofft dann, dass sie dagegen oder dafür etwas tun, aber viele tun das nicht. Wenn man sagt: Du musst beweglicher sein oder: Du brauchst mehr Stabilität oder: Du brauchst mehr Schnelligkeit