Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
eines Tages Flugzeuge fliegen. Fußball war etwas, das ich zum Spaß machte und ich hatte beim Spielen immer viel Spaß.“ Das Vertragsangebot von den Stuttgarter Kickers änderte diese Pläne und zwang ihn, seine fliegerischen Ambitionen auf Eis zu legen, wenn auch nicht für immer. Er erwarb ein Vierteljahrhundert später eine Fluglizenz für Hubschrauber und genießt es, auf diese Weise Südkalifornien zu erkunden. Das Angebot bewirkte darüber hinaus, dass der neugierige junge Mann, der so gern lernte, sich dazu durchringen musste, seine Ausbildungspläne zu ändern. Auf absehbare Zeit bedeutete das für ihn, sich von dem Gedanken zu studieren verabschieden zu müssen – auch, als einige seiner Freunde aus Geislingen zur Uni gingen.
Die deutschen Gymnasien sind betont akademisch ausgerichtet, als Vorbereitung auf die Universität. Nur etwa die Hälfte aller Kinder schafft die Aufnahme auf ein Gymnasium. Im Vergleich zur amerikanischen High School lernen die Kinder auf dem Gymnasium viel mehr.
Die in Deutschland im Alter von etwa 15 Jahren frühe Entscheidung für eine Karriererichtung mag manchem fast grausam und für Spätentwickler als besonders unfair erscheinen. Einige dürfen die schnelle akademische Laufbahn vom Gymnasium direkt zur Universität gehen, während die anderen eine Berufsausbildung beginnen und häufig für den Rest ihres Lebens in dem erlernten Beruf weiterarbeiten. Als Klinsmann 15 war, gab es kaum Profifußballer, die das Gymnasium besucht hatten. Heutzutage ist dies dank der Fußballakademien anders, welche die schulische Ausbildung parallel zum Fußball fördern, so dass jetzt mehr als die Hälfte aller Profispieler ihr Abitur macht.
Für Klinsmann stellte diese Entscheidung eine schwierige und schwerwiegende Wegscheide dar. „Meine Noten waren nicht gut genug, um direkt aufs Gymnasium zu gehen“, erzählt er. Er zog in Erwägung, aufs Wirtschaftsgymnasium zu gehen, um doch studieren zu können. Aber das hätte bedeutet, dass er sich in Vollzeit auf die Schule hätte konzentrieren müssen, und zwar insgesamt 13 Schuljahre bis zum Alter von 19 Jahren. „Zur selben Zeit kamen die Kickers auf mich zu und boten mir einen Profivertrag. Ich war noch keine 16, sondern immer noch 15 Jahre alt. Ich fragte meinen Vater: Was soll ich machen? Ich würde gern in der Schule bleiben, obwohl meine Noten nicht die besten sind, aber ich denke, ich sollte weiter zur Schule gehen. Er sagte, er verstehe mich, aber er machte mir auch klar, dass ich, wenn ich weiter zur Schule gehen wolle, den Vertrag mit den Kickers nicht unterschreiben könne.“
Siegfried Klinsmann wollte, dass sein Sohn wenigstens einen Beruf erlernen sollte, auf den er im Notfall zurückgreifen könnte, falls es mit seiner Karriere als Profifußballer nicht klappen würde. Ein pragmatischer Ratschlag. Es gab zu der Zeit in der Tat hunderte, wenn nicht sogar tausende junger Fußballer in Deutschland, deren Träume von der Profikarriere sich manchmal schlagartig in Luft auflösten und von denen sich viele in einer Sackgasse gefangen sahen, weil sie für diese Situation nicht vorgesorgt hatten. Andere hatten sichergestellt, dass sie auf jeden Fall einen Abschluss in der Tasche hatten: Einige von Klinsmanns Vorgängern in der Nationalmannschaft hatten mit 15 ebenfalls die Schule verlassen, um eine Lehre zu machen: Franz Beckenbauer war gelernter Versicherungskaufmann, Berti Vogts hatte Werkzeugmacher gelernt, Rudi Völler war Bürokaufmann und Joachim Löw war von Hause aus Groß- und Außenhandelskaufmann.
Wenn Klinsmann sich für den akademischen Weg entschieden hätte, wäre er mit dem Abitur nicht bis zu seinem 19. Lebensjahr fertig geworden, wenn seine Karriere als Profifußballer begonnen und seine gesamte Zeit in Anspruch genommen hätte. Vielleicht hätte er ein oder zwei Jahre vor dem Abitur die Schule abgebrochen und damit ohne Abschluss dagestanden. Sein Vater befürchtete, dass Jürgen im schlechtesten Fall dann mit leeren Händen dastünde, ohne irgendeinen Abschluss und ohne Fußballkarriere. Es war für Klinsmann eine schwierige Entscheidung, die Schule mit 15 zu verlassen und manchmal scheint es, heutzutage, als wäre dies eines der wenigen Dinge, die er bedauert, trotz der Tatsache, dass er seitdem auf andere Weise immenses Wissen erworben und vier Fremdsprachen erlernt hat.
Es war für Fußballspieler nicht ungewöhnlich, mit 15 Jahren von der Schule abzugehen, in einem Alter, in dem Millionen junge Leute den regulären Schulbetrieb verlassen, um eine Lehre zu beginnen. „Mein Vater sagte: Okay, wenn du bei mir eine Lehre als Bäcker absolvierst und deinen Gesellenbrief bekommst, hast du wenigstens eine abgeschlossene Berufsausbildung, auf die du zurückgreifen kannst, falls irgendetwas mit deinem Fußballkram passiert.“ Klinsmann erzählt: „Er nannte es immer ‚Fußballkram’. Ich sagte: Okay, ja, das macht Sinn. Ich wusste bereits, was es praktisch heißen würde, Bäcker zu werden, weil ich damit aufgewachsen war, alle die Dinge herzustellen, die man in einer Bäckerei sehen kann. Daher war das kein Problem.“
Einige Jahre später, als Klinsmann in Italien bei Inter Mailand spielte, unternahm er einen weiteren Versuch, das Gymnasium zu beenden – auf Italienisch – und verbrachte viele Stunden mit zwei Privatlehrern, um das Äquivalent eines Abiturzeugnisses zu erlangen. Aber in seiner letzten Saison in Italien, als Inter Mailand auf dem Spielfeld zu kämpfen hatte, musste er dieses Vorhaben aufgeben. „Zu studieren war etwas, was ich mir gut vorstellen konnte zu tun, aber es wurde mir plötzlich klar, dass ich eine Art Universitätsausbildung bekommen könnte, indem ich in verschiedenen Ländern lebte“, erinnert er sich. „Ich habe vielleicht nicht so viele theoretische Stunden wie in einem Klassenzimmer bekommen, ... aber ich hatte unzählige praktische Unterrichtsstunden, indem ich mit Menschen in vielen verschiedenen Ländern zu tun hatte. Das war meine Ausbildung.“
Im Rahmen seiner Lehre in der Familienbäckerei in Stuttgart begann Klinsmann ganz in der Früh, noch lange vor Sonnenaufgang mit der Arbeit und backte die leckeren Bretzeln, Brötchen, Kuchen und Brotlaibe, welche die Deutschen am liebsten jeden Morgen frisch aus dem Ofen bei ihrer Bäckerei um die Ecke kaufen. Klinsmanns bevorzugtes Gebäck war die schwäbische Bretzel, die sich von der bayerischen Bretzel dahingehend unterscheidet, dass sie dünnere „Arme“ und einen dickeren „Bauch“ hat.
Einen Tag in der Woche ging er in die Berufsschule im nahegelegen Hoppenlau. „Der praktische Teil der Ausbildung war kein Problem für mich, weil ich damit aufgewachsen bin“, erzählt Klinsmann. Er ging morgens zu den Trainingseinheiten der 1. Herrenmannschaft der Kickers und spielte die Punktspiele am Wochenende in der Mannschaft der unter 18-Jährigen. 1982 bestand er seine