Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum


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es heißt, zwölf oder mehr Stun­den täg­lich zu ar­bei­ten“, er­zählt Klins­mann und fügt hin­zu, dass sein Va­ter manch­mal so­gar 14 bis 16 Stun­den am Tag ge­ar­bei­tet habe. Er sagt, er habe nie­mals ver­stan­den, wie sein Va­ter es so gut schaff­te, mit die­ser ge­rin­gen Men­ge Schlaf aus­zu­kom­men. Von sei­nem Va­ter und sei­ner Mut­ter über­nahm Klins­mann sei­ne le­bens­lan­ge Wert­schät­zung für har­te Ar­beit. „Mei­nen El­tern habe ich das Meis­te zu ver­dan­ken.“

      Die Klins­manns ge­hör­ten zu Deutsch­lands brei­ter Mit­tel­klas­se der 60er-, 70er- und 80er-Jah­re, die we­der Teil der klei­nen Grup­pe der wohl­haben­den Eli­te noch Teil der klei­nen Grup­pe der Be­dürf­ti­gen bil­de­ten. In den 1970er-Jah­ren war die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zu ei­nem der reichs­ten Län­der der Welt ge­wor­den, und die­ser wirt­schaft­li­che Er­folg war groß­flä­chig auf eine brei­te Mit­tel­klas­se ver­teilt. Mit ei­ner um­fas­sen­den ge­setz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung für je­den und gu­ten Schu­len im gan­zen Land ver­mit­tel­te die so­zia­le Markt­wirt­schaft den Bür­gern ein wun­der­ba­res Ge­fühl der Gleich­heit. Das groß­zü­gi­ge so­zia­le Netz ver­hin­der­te, dass ir­gend­je­mand, selbst wenn er ar­beits­los wur­de, durch das so­zia­le Netz fal­len und in Exis­tenz be­dro­hen­de fi­nan­zi­el­le Not kom­men konn­te. Gleich­zei­tig wirk­ten die re­la­tiv ho­hen Steu­ern ei­ner An­häu­fung großer Ver­mö­gen ent­ge­gen oder ver­hin­der­ten zu­min­dest eine sehr of­fen­sicht­li­che Zur­schau­stel­lung von Reich­tum. Die meis­ten Deut­schen ar­bei­te­ten den­noch hart, um über die Run­den zu kom­men und Klins­manns Er­zie­hung in der Fa­mi­li­en­bä­cke­rei form­te ihn in wich­ti­ger Wei­se.

      „Er war selbst Sport­ler, ein be­geis­ter­ter Tur­ner und Rad­fah­rer und mei­ne In­ter­es­se an Sport habe ich von ihm ge­erbt“, sagt Klins­mann über sei­nen Va­ter, der 2005 mit 71 Jah­ren starb. Für Klins­mann war dies, ein Jahr be­vor er die Deut­schen bei der Welt­meis­ter­schaft 2006 im ei­ge­nen Land trai­nier­te, ein schwe­rer Schlag. „Als Bä­cker war es für ihn je­des Mal eine He­r­aus­for­de­rung, zu mei­nen Spie­len am Sams­tagnach­mit­tag zu kom­men. Für eine Bä­cke­rei ist der Sams­tag der an­stren­gends­te Tag der Wo­che. Mein Va­ter hat­te die Nacht durch­ge­ar­bei­tet und kämpf­te ge­gen sei­ne Mü­dig­keit an. Mei­ne Spie­le be­gan­nen erst um zwei oder drei Uhr nach­mit­tags. Es war manch­mal hart für ihn, die Au­gen of­fen­zu­hal­ten, weil er so müde war. Er kam mit ei­ner großen Tüte Bret­zeln zum Spiel­feld, für die gan­ze Mann­schaft ..., und die an­de­ren konn­ten es gar nicht er­war­ten, nach dem Spiel ihre Bret­zel zu be­kom­men. Er sah sich die Spie­le im­mer von hin­ter dem Tor aus an. Er stand nur da. Er tat dies bis zu der Zeit, in der ich an­fing, als Pro­fi zu spie­len. Er war wahr­schein­lich sehr, sehr müde, aber ihn dort ste­hen zu se­hen, be­deu­te­te mir sehr viel.“ Klins­mann sagt, dass sein Va­ter ihn nie­mals ge­drängt habe, Fuß­ball zu spie­len und nie­mals ver­sucht habe, sich in sei­ne Kar­rie­re ein­zu­mi­schen, dass er aber stets da war, um sein wach­sen­des In­ter­es­se an dem Na­tio­nal­sport zu un­ter­stüt­zen. „Er kam zu je­dem Spiel, zu dem er es ir­gend­wie schaf­fen konn­te, ohne et­was zu sa­gen, egal ob ich gut oder schlecht ge­spielt hat­te. Er kom­men­tier­te nie­mals ein Spiel, da er sag­te: Ich bin nicht mit Fuß­ball auf­ge­wach­sen; ich bin Tur­ner. Hab ein­fach Spaß! Das ein­zi­ge, was er mich im­mer frag­te, war: Hat es dir heu­te Spaß ge­macht? Hat­test du eine gute Zeit? Ich war in der glück­li­chen Lage, mei­ne ge­sam­te Kind­heit über die­se Art von An­lei­tung und Un­ter­stüt­zung zu ha­ben.“

      Schon als Kind war Klins­mann als ehr­gei­zi­ger Sport­ler be­kannt, der es hass­te, zu ver­lie­ren; et­was, was auch heu­te noch der Fall ist, sei es als Spie­ler oder als Trai­ner oder so­gar, wenn er mit sei­nen Spie­lern Tisch­ten­nis spielt. Als Trai­ner wurmt es ihn im­mer noch, wenn ein Spie­ler sein Ta­lent ver­geu­det oder sein Po­ten­zi­al nicht voll aus­schöpft. Klins­mann be­saß schon in sei­ner Ju­gend auf dem Spiel­feld einen aus­ge­präg­ten Wil­len zu kämp­fen und zu sie­gen, der oft die gan­ze Mann­schaft mit­zog und das Spiel­ni­veau sei­nes gan­zen Teams er­höh­te, ins­be­son­de­re spä­ter bei großen Tur­nie­ren mit der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft. „Mich macht es ra­send, wenn ei­ner nicht das Op­ti­mum bringt“, sagt Klins­mann. Ob­wohl je­der Spie­ler ein­mal einen schlech­ten Tag ha­ben kann, war sein Mot­to: „Kämp­fen bis zum Um­fal­len“, selbst wenn man einen schlech­ten Tag hat­te. In sei­nem Buch Klins­mann, Stür­mer, Trai­ner, Welt­meis­ter schreibt der deut­sche Sport­jour­na­list Mi­cha­el Ho­re­ni, dass Klins­mann we­gen sei­ner Ar­beitseinstel­lung bei den Fans enorm be­liebt war, egal wo er spiel­te: „Sei­ne Kar­rie­re war von An­fang an ge­prägt von sei­ner enor­men Wil­lens­kraft, Dis­zi­plin und Ehr­geiz. Es ist kein Zu­fall, dass er zu den we­ni­gen Pro­fis ge­hö­ren soll­te, de­nen die Zu­schau­er nie den Vor­wurf ma­chen konn­ten, auf dem Fuß­ball­platz nicht al­les ge­ge­ben zu ha­ben.“

      So lei­den­schaft­lich Klins­mann be­züg­lich sei­ner Leis­tung und der sei­ner Mann­schafts­ka­me­ra­den auf dem Platz war, zeig­te Klins­mann als Ju­gend­li­cher nur sel­ten sei­ne Wut über eine Nie­der­la­ge oder ein ent­täu­schen­des Er­geb­nis. Statt­des­sen brü­te­te er ein­fach lei­se vor sich hin, bis sich der Frust von sel­ber lang­sam auf­ge­löst hat­te. Manch­mal dau­er­te dies ei­ni­ge Stun­den, manch­mal ein paar Tage, manch­mal so­gar ei­ni­ge Wo­chen, be­son­ders spä­ter als Pro­fi, wenn bei­spiels­wei­se eine deut­sche Mann­schaft vol­ler ta­len­tier­ter Spie­ler bei der WM 1994 in den USA be­reits im Vier­tel­fi­na­le ge­gen Bul­ga­ri­en aus­schied. Klins­mann er­zählt, sein Va­ter und sei­ne Mann­schafts­ka­me­ra­den hät­ten die In­ten­si­tät sei­ner Ent­täu­schung ver­stan­den, die er schon als klei­ner Jun­ge emp­fun­den habe, und ihm viel Raum ge­las­sen, wenn er „Dampf ab­las­sen“ muss­te. „Mein Va­ter sah, dass ich manch­mal sau­er war, weil wir ver­lo­ren hat­ten oder weil ich viel­leicht kein Tor ge­schos­sen hat­te. Dann ließ er mich in Ruhe, weil er wuss­te, dass es das Bes­te war, mir ein­fach ein we­nig Zeit zu ge­ben. Die­se Be­ru­hi­gungs­pha­sen konn­ten zwi­schen ei­ni­gen Stun­den und ei­nem Tag dau­ern, auch als ich noch in Gin­gen spiel­te. Also lie­ßen mich die an­de­ren in Ruhe. Manch­mal muss­te ich mich hin­ter­her bei ih­nen ent­schul­di­gen, weil ich so sau­er war. Aber sie lern­ten da­mit um­zu­ge­hen. Dass ich im­mer Zeit brauch­te, um run­ter­zu­kom­men, ist et­was, was sich bei mir nie ge­än­dert hat.“

      Mit der gan­zen Übung und Ent­schlos­sen­heit be­fand sich Klins­manns Kar­rie­re auf ei­nem stei­len Weg nach oben. Eine re­gio­na­le Fuß­ball­zei­tung schrieb 1977 einen vor­au­sah­nen­den Be­richt über den 13-jäh­ri­gen Jür­gen Klins­mann mit der Über­schrift „Auf den Spu­ren Gerd Mül­lers“. Mül­ler war Deutsch­lands Top-Stür­mer in den 70er-Jah­ren. Der Ar­ti­kel be­schrieb Geis­lin­gens jun­gen Mit­tel­stür­mer als „blond, schlank und rank, nicht über­mä­ßig groß, doch un­ge­mein wen­dig, pfeil­schnell und mit ‚Dy­na­mit` in den Bei­nen“. Der Ar­ti­kel in dem Blatt aus der D- und C-Ju­gend­zeit hielt fest, dass Klins­mann die un­glaub­li­che Zahl von 250 To­ren für Geis­lin­gen in we­ni­ger als vier Sai­sons ge­schos­sen hat­te, und der Au­tor schloss mit ei­ner Vor­her­sa­ge, auf die er Jah­re spä­ter sehr stolz ge­we­sen sein muss: „Eine große Zu­kunft steht ihm of­fen.“ Jür­gen Klins­mann spiel­te von 1974 bis 1978 für den SC Geis­lin­gen. Er spiel­te so­gar wei­ter für den Ver­ein, nach­dem sei­ne Fa­mi­lie von Gin­gen nach Stutt­gart-Botn­ang ge­zo­gen war, etwa 45 Ki­lo­me­ter west­lich von Geis­lin­gen.


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