Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
außerhalb des Strafraums gestürzt und verwandelte ihn mit dem linken Fuß in einen langen Schuss, der in der unteren linken Torecke landete. „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tor! Tor! Tor! Tor!“, hatte Radioreporter Zimmermann geschrien.
Fußball war demnach bereits ein Jahrzehnt vor Klinsmanns Geburt mit dem ersten Weltmeisterschaftserfolg etwas Besonderes und mehr als nur irgendeine Sportart in Deutschland. Ein Jahrzehnt nach Klinsmanns Geburt, im Jahr 1974, gewann Deutschland seinen zweiten WM-Titel, nur drei Wochen vor Klinsmanns zehntem Geburtstag. Der dritte WM-Titel folgte 1990 mit dem 25-jährigen Klinsmann als eine der Schlüsselfiguren der Nationalmannschaft. Seinen vierten Stern gewann Deutschland 2014 mit einer Mannschaft, die Klinsmann in seiner Funktion als Nationaltrainer von 2004–2006 mitgeformt hatte.
Der Aufstieg
Klinsmanns ungeheure Torjägerfähigkeiten als Jugendlicher blieben 20 Jahre nach der Weltmeisterschaft von 1954 nicht lange unbemerkt, ganz besonders in einem Land mit zahlreichen Sportjournalisten und Talentscouts, deren Hauptaugenmerk auf dem Fußballsport lag.
Es gibt in Deutschland hunderte von Tageszeitungen und dutzende Sportzeitungen und Magazine. Bei so viel Medienpräsenz und einem großen Netzwerk an ehrenamtlichen und professionellen Talentscouts ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein vielversprechendes, leuchtendes junges Talent wie Klinsmann lange unentdeckt bleibt. Dieses Netzwerk wurde in den letzten zehn Jahren mit mehr als 50 über ganz Deutschland verteilten DFB-Leistungszentren, in denen talentierte junge Spieler gesichtet, betreut und trainiert werden und die der Trainerausbildung dienen, noch weiter ausgebaut.
Im Alter von zehn Jahren wurden Klinsmanns Ambitionen bereits deutlich. Im kleinen „Teich“ Gingen wurde er bald der buchstäblich „große Fisch“ und strebte selbst nach neuen Herausforderungen. Ein Nachbar, Werner Gass, der einige Jahre älter als Klinsmann war, trainierte eine Jugendmannschaft, während er gleichzeitig in der Herrenmannschaft eines größeren Vereins spielte, dem SC Geislingen, das etwa 11 Kilometer von Gingen entfernt liegt.
Die Stadt Geislingen war mit einer Einwohnerzahl von etwa 26.000 mehr als sechsmal so groß wie Gingen. Der SC Geislingen war in einem weiten Umkreis als einer der Besten im Bereich der Nachwuchsförderung bekannt. Gass trainierte damals die D-Jugend, die unter Zwölfjährigen des SC Geislingen, während er mit seinen 18 Jahren selbst Spieler in der 1. Herrenmannschaft war, die in der 4. Bundesliga oder Regionalliga spielte. Später spielte er beim VfB Stuttgart.
Entschlossen wie er war, wollte auch Klinsmann nun in einer höheren Liga spielen. Er war bereits selbstbewusst und mutig genug, diesen Schritt zu gehen und die Dinge in die Hand zu nehmen. Dabei zeigte er das gleiche Gespür, den Mut und die Eigeninitiative, die ihn während seiner gesamten Karriere als Spieler und Trainer begleiteten.
„Eines Tages dachte ich, dass es an der Zeit sei, den nächsten Schritt zu machen“, erinnert sich Klinsmann. „Ich wollte für Geislingen spielen. Ich wusste, wo Werner wohnte. Sein Haus war nicht weit von der Bäckerei entfernt. Also ging ich eines Tages einfach rüber, klopfte einfach an seine Tür und sagte: Ich möchte in deiner Mannschaft spielen. Und er antwortete: Ja, klar.“
Klinsmann hatte die eineinhalb Jahre in seinem Heimatclub in Gingen genossen. Aber dadurch, dass er täglich mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft trainierte, war er schnell so viel besser als die meisten seiner Altersgenossen geworden, dass Gingen, wo es nur eine Trainingseinheit und ein Spiel pro Woche gab, ihm keine Herausforderung mehr bieten konnte. „Es war so, dass ich oft einen langen Ball von einem Mitspieler bekommen und den Rest alleine gemacht habe, während die anderen oft nur herumgestanden und zugeguckt haben“, erzählt Klinsmann. „Jeder sagte: Der kann hier nicht mehr spielen, der ist einfach zu gut. So kam ich eines Tages nach einem Spiel zu dem Schluss: Ich muss hier raus.“
Seine Bestrebung nach neuen Herausforderungen zeigt, dass Klinsmann schon früh entschlossen war, besser zu werden und die nächste Stufe zu erklimmen, eine Entschlossenheit, die ihn während seiner ganzen Karriere als Spieler und dann auch als Trainer begleitete. Trotz der Entbehrungen und Risiken, die mit dem Verlassen der „Komfortzone“ verbunden waren, war dieser kindliche Ehrgeiz ein Vorbote dessen, was in den Jahren danach folgte. Die D-Jugend in Geislingen trainierte häufiger und intensiver, und die Trainer waren erfahrener und besser ausgebildet. Klinsmann bemerkte den Unterschied sofort. Das Training fand dreimal die Woche statt mit zusätzlich einem Punktspiel am Sonnabend.
Klinsmann war erst zehn Jahre alt und musste sich nun auch überlegen, wie er von Gingen zum Training nach Geislingen kommen könnte. „Die ersten zwei Jahre holte mich Werner zum Training ab und brachte mich wieder nach Hause, oder ich musste die Strecke mit dem Fahrrad fahren.“
Selbst als sich seine Fähigkeiten weiter verbesserten und sein Talent als Stürmer mehr Aufmerksamkeit zu erregen begann, dachte Klinsmann nach wie vor nicht einmal im Traum daran, Profi werden zu können. Er erfreute sich daran, die Fußballpyramide Stufe um Stufe höher hinaufzusteigen und wartete mit Neugier ab, wie weit er in einem Umfeld kommen konnte, das immer kompetitiver wurde. „Mein Ziel als Kind war es, mit der Mannschaft in der Verbandsliga zu spielen. Wenn man das erreicht hat, setzt man sich das nächsthöhere Ziel. Ich wollte dann in der 1. Herrenmannschaft spielen, die in der Regionalliga war. Es ging also darum, von einem Ziel zum nächsten zu gehen, einen Schritt nach dem anderen.“
Als Klinsmann 1974 in den SC Geislingen eintrat und die Trikots in den schwarz-weißen Clubfarben trug, schenkte sein Vater ihm ein „Rekordbuch“, in das er seine Spielstatistiken, Ergebnisse und Tore eintragen konnte. Siegfried Klinsmann versah das Buch mit einer Widmung, die Klinsmann alle Jahre beherzigte: „Olympisch sein heißt: ehrlich im Kampf, bescheiden im Sieg, neidlos in jeder Niederlage und sauber in deiner Gesinnung. Das hofft Dein Vater und Turnkamerad, Siegfried Klinsmann.“
„Ich habe dieses Buch immer noch zu Hause“, sagt Klinsmann mit nicht geringem Stolz und ergänzt, dass diese Widmung ihm später während seiner Karriere sehr viel bedeutet habe, auch wenn er den vollen Sinn anfangs nicht habe erfassen können.
„Mein Vater gab mir das Buch, weil er dachte, wenn er schon den ganzen Tag nur vom Toreschießen redet, sollte er vielleicht darüber Buch führen, wie viele Tore er schießt. So habe ich während meiner ganzen Jugendkarriere