Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
Gipfel des Babybooms in Deutschland mit der Rekordgeburtenrate von 1.357.304 Kindern in West- und Ostdeutschland zusammengenommen. Niemals davor oder danach wurden in Deutschland in einem einzigen Jahr so viele Kinder geboren.
Klinsmann war von den Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Jugendmannschaft des TB Gingen fasziniert und gleichzeitig durch seine sich ständig verbessernden Leistungen angespornt. Schon im zarten Alter von acht Jahren war er hoch motiviert und besaß den unstillbaren Wunsch, sich zu verbessern. Er wollte der beste Spieler auf dem Platz sein und in den Spielen so viel wie möglich eingesetzt werden. Natürlich wollte er außerdem gewinnen und möglichst viele Tore schießen – ein Ehrgeiz, der ihn das nächste Vierteljahrhundert über antreiben und bis ganz nach oben bringen sollte.
Klinsmann vermeidet es im Großen und Ganzen, in der Vergangenheit zu schwelgen. Dennoch huscht ein Lächeln über sein Gesicht, wenn er an seine Fußballbegeisterung als Kind zurückdenkt. „In dieser kleinen Gemeinschaft war man einfach davon besessen, Fußball zu spielen. Also machst du das mit deinen Kumpels auf der Straße, und irgendwann probierst du es im örtlichen Fußballverein. So habe ich angefangen. Damals war acht Jahre in etwa das früheste Einstiegsalter, um im Verein zu spielen. Für jüngere Kinder gab es damals noch keine Strukturen. Das hat sich heute komplett geändert. Heutzutage fangen viele Kinder bereits mit fünf Jahren an, im Verein zu spielen!“
Fußball war ein Jahrzehnt vor Klinsmanns Geburt ein wichtiger Baustein der nationalen Identität geworden. Dies resultierte zum Teil aus der Euphorie, die ausbrach, als das Land 1954 durch den Sieg über Ungarn die Weltmeisterschaft gewann und aus den Nachwirkungen dieses historischen Triumphes. Der unerwartete Erfolg des Teams der jungen Bundesrepublik war einer der auslösenden Faktoren des deutschen „Wirtschaftswunders“ und der unerwartete Aufstieg aus den Ruinen des 2. Weltkrieges. Der starke Einfluss, den der Fußball auf die deutsche Psyche ausübte, kann zu einem erheblichen Anteil auf diesen legendären Weltmeisterschaftssieg zurückgeführt werden. Der Gewinn der Weltmeisterschaft nach und in so schwierigen Zeiten leistete einen wichtigen Beitrag zu einer sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kettenreaktion, von der Volkswirtschaftler behaupten, dass sie geholfen habe, das legendäre Wirtschaftswunder, den Boom der 50er-Jahre auszulösen. Nach einem Jahrzehnt der Nachkriegsdepression und Verzweiflung hellte sich die Stimmung schlagartig auf. Der Fußball half mehr als alles andere, das Land aus seiner Nachkriegslethargie zu befreien. Der Titelgewinn 1954 verbesserte die Grundstimmung und half Millionen von Deutschen, sich nach Jahrzehnten der Ächtung und Isolation als Folge der Nazi-Vergangenheit wieder als Teil der Weltgemeinschaft fühlen zu können. Verständlicherweise war und ist Fußball seitdem mehr als nur ein Spiel für die Deutschen.
Klinsmanns zweiter Geburtstag hätte ein Freudentag für ganz Deutschland werden können, wurde stattdessen aber ein Tag der Trauer. Das Land war weder 1958 noch 1962 in der Lage, den Erfolg des Weltmeisterschaftssieges von 1954 zu wiederholen. 1958 verloren sie das Halbfinale gegen den Gastgeber Schweden 3:1 und 1962 schieden sie durch eine 1:0-Niederlage gegen Jugoslawien im Viertelfinale aus. Aber 1966 waren sie nahe dran, nach zwölf Jahren wieder eine Weltmeisterschaft zu gewinnen. Sie erreichten das Finale gegen Gastgeber England. Aber sie verloren, als Englands Geoff Hurst in der elften Minute der 30-minütigen Nachspielzeit ein umstrittenes Tor zugesprochen wurde und der Spielstand dann 3:2 lautete. Hursts Schuss war gegen die Latte geprallt und auf, aber eventuell nicht ganz über die Linie gesprungen, bevor ein deutscher Verteidiger den Ball aus dem Torbereich klären konnte. War es wirklich ein Tor oder nicht? Es ist eine der ganz großen Kontroversen des Fußballs und wird vermutlich nie abschließend gelöst werden. England schoss eine Minute vor Abpfiff ein viertes Tor, als Deutschland nach vorne stürmte in dem verzweifelten Versuch, ein Ausgleichstor zu schießen.
Eine Woche, nachdem Jürgen Klinsmann 1973 in die Jugendmannschaft des TB Gingen eingetreten war und einen ersten Eindruck vom Fußball mit festen Regeln bekommen hatte, wurde er in den letzten zehn Minuten eines Punktspiels gegen einen Verein namens FTSV Kuchen als Ersatzspieler eingesetzt. Er wurde aufs Feld geschickt, nachdem man ihm noch eine kurze Einweisung in eine Regel gegeben hatte, um die sich beim Spielen mit seinen Kumpels bisher niemand Gedanken gemacht hatte. „Hei, was isch eigentlich Abseits?“, fragte Klinsmann, bevor er aufs Feld lief. So beschreibt Roland Eitel Klinsmanns Anfänge beim TB Gingen in seiner Biografie Jürgen Klinsmann – Der Weg nach oben. Beim nächsten Spiel, eine Woche später gegen den SV Altenstadt, schoss Klinsmann bei einem 5:1-Sieg für seine Mannschaft sein erstes Tor. In der E-Jugend, in der die Acht- bis Zehnjährigen spielen, wurde Klinsmann für sein Talent als Torjäger bald bekannt.
Wie man weiß, sind die Deutschen in den meisten Dingen sehr gut organisiert, und das trifft ganz besonders auf den Fußball zu. Obwohl er in seiner offiziellen Form wenig an Schulen und Universitäten gespielt wird – im Gegensatz zu den USA –, gibt es das eingangs beschriebene pyramidenförmige System mit seiner klaren Hierarchie, in der Spieler nach Alter und nach Leistung Stufe für Stufe erklimmen können.
Als Klinsmann anfing Vereinsfußball zu spielen, begann die nach Alter strukturierte Einteilung mit der E-Jugend, in der im Gegensatz zu den Jugend- und Erwachsenenteams nur sieben statt elf Spieler auf dem Feld sind. Im Jugendbereich folgten auf die E-Jugend vier weitere Altersstufen, D (11 bis 13 Jahre), C (14 bis 15 Jahre), B (16 bis 17 Jahre) und A (18 bis 19 Jahre), bevor die Jugendlichen in die Erwachsenenmannschaft aufgenommen werden konnten. Wobei spätestens nach dem Durchlaufen der A-Jugend viele Spieler den Vereinsfußball zunächst verließen, da sie entweder leistungsmäßig nicht mithalten konnten oder wollten beziehungsweise oft durch Beruf oder Studium anderweitig eingebunden waren.
Dies hat sich bis heute kaum geändert. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass die Kinder heutzutage wesentlich früher anfangen, in einer Mannschaft zu spielen, sodass es bereits eine G-Jugend für die unter Siebenjährigen gibt und eine F-Jugend für die Sieben- bis Achtjährigen. „Durch diese organsierte Form des Fußballsports werden auch für die Jüngeren die Ergebnisse aufgeschrieben, man hat seine feste Mannschaft in einer vorgegebenen Liga und man trägt Mannschaftstrikots“, sagt Klinsmann. „Dies ist der Moment, in dem man das, was man beim Spielen auf der Straße gelernt hat, auf den organisierten Fußball überträgt und weiterentwickelt.“
Unterschwellig verbreitet dieses strikte