Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum


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pro­fi­lier­tes­ten Tor­schüt­zen sei­nes Lan­des wer­den wür­de. Wie die meis­ten sei­ner Freun­de beim TB Gin­gen über­stieg es sei­ne Vor­stel­lungs­kraft, dass er im Fuß­ball weit ge­nug kom­men wür­de, um dies be­ruf­lich aus­zu­ü­ben. Er lieb­te es ein­fach, zu spie­len und ge­noss von An­fang an den da­mit ein­her­ge­hen­den Leis­tungs­druck. „Zu dem Zeit­punkt hast du kei­ne Ah­nung, wie sich dein Le­ben ent­wi­ckeln wird“, sagt er. „Du spielst Fuß­ball, weil es dir Spaß macht und weil es das ist, was dei­ne Freun­de tun.“

      Klins­mann be­wahr­te sich die­se kind­li­che und an­ste­cken­de Be­geis­te­rung auf dem Spiel­feld, wäh­rend er Stu­fe um Stu­fe die Py­ra­mi­de des Fuß­balls hö­her­stieg. Auch in spä­te­ren Jah­ren war es für Klins­mann-Fans eine Freu­de zu se­hen, dass er sich die­se ju­gend­li­che Be­geis­te­rung be­wahrt hat­te, die sich vor al­lem in sei­nen un­ge­brems­ten Freu­den­stür­men bei To­ren für sein Land oder sei­ne je­wei­li­gen Ver­ei­ne in Deutsch­land, Ita­li­en, Frank­reich und Eng­land zeig­te. Die­se sorg­lo­se Un­schuld schi­en im Wi­der­spruch zu ste­hen zu sei­nem Al­ter, sei­ner jah­re­lan­gen Er­fah­rung und sei­nem Sta­tus als Pro­fi. Der Ju­bel, wenn er ein Tor schoss, schi­en sich nicht von dem zu un­ter­schei­den, wie der zehn­jäh­ri­ge Jür­gen Klins­mann sei­ne Tore für den TB Gin­gen ge­fei­ert hat­te. So­gar vier Jahr­zehn­te spä­ter muss sich je­der, der be­ob­ach­tet, wie Klins­mann sich beim Trai­ning auf dem Platz mit den Spie­lern der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft in „5 ge­gen 2“-Fuß­ball-drills stürzt, über die ju­gend­li­che Be­geis­te­rung die­ses über 50-jäh­ri­gen Trai­ners wun­dern.

      In ei­nem auf Fuß­ball fi­xier­ten Land wie Deutsch­land lag eine mög­li­che Kar­rie­re als Pro­fi für die meis­ten Ju­gend­li­chen au­ßer­halb ih­rer Vor­stel­lungs­kraft. Die Bun­des­li­ga und gar der Pro­fi­be­reich schie­nen Licht­jah­re ent­fernt. Die Bun­des­li­ga­spie­le wur­den da­mals nicht ein­mal live im Fern­se­hen über­tra­gen. Statt­des­sen gab es die Sport­schau, in der die Hö­he­punk­te der ein­zel­nen Spie­le oft in kur­zen Film­bei­trä­gen zu­sam­men­ge­fasst und dis­ku­tiert wur­den. Zu der Zeit hat­te Klins­mann ganz an­de­re Zu­kunfts­plä­ne. Er er­zähl­te je­dem, der ihn da­nach frag­te, dass er Pi­lot wer­den wol­le, wenn er groß sei. Fuß­ball spiel­te er nur zum Spaß. „In die­sem Um­feld ei­ner Fuß­ball­na­ti­on hat­te je­des Kind, das mit ein biss­chen Ta­lent ge­seg­net war, zu­nächst ein ein­zi­ges Ziel, und zwar je­nes, das sich di­rekt vor ih­nen in Sicht- und Reich­wei­te be­fand“, er­zählt Klins­mann. Er be­wun­dert das küh­ne Selbst­be­wusst­sein der Kin­der des 21. Jahr­hun­derts in den USA, wo die Träu­me groß sind und die Kin­der sich ohne zu zö­gern vor­stel­len, dass sie spä­ter selbst ein­mal die Stars in ei­nem NBA-Fi­na­le, ei­nem Su­per Bowl oder ei­nem Welt­cup sein könn­ten. „Als ich ein Kind war, dach­te man eher: Du wirst nie­mals gleich ein Ziel er­rei­chen, das hun­der­te von Ki­lo­me­tern ent­fernt liegt. Das war al­les so weit weg“, er­zählt er mit nicht we­nig Ver­wun­de­rung über die Fä­hig­keit jun­ger Ame­ri­ka­ner, ihre Zie­le so hoch zu ste­cken.

      Er war im Juli 1973 ge­ra­de neun Jah­re alt ge­wor­den und hat­te hart trai­niert, so­wohl im Ver­ein beim TB Gin­gen als auch zu Hau­se mit Freun­den, wo sie stun­den­lang ge­gen Wän­de und Ga­r­agen­to­re spiel­ten. Ei­nes Ta­ges spiel­te er für Gin­gen ge­gen einen Fuß­ball­club aus Ai­chel­berg. Ob­wohl er erst seit we­ni­gen Mo­na­ten im Ver­ein spiel­te, schoss Klins­mann 16 Tore, und sei­ne Mann­schaft ge­wann 20:0. Das Er­geb­nis war umso be­ein­dru­cken­der, wenn man be­denkt, dass die Punkt­spie­le in die­ser Al­ter­sklas­se nur aus zwei Halb­zei­ten à 20 Mi­nu­ten be­ste­hen. Klins­mann fühl­te, dass sich die tau­sen­den Stun­den, die er mit sei­nen Freun­den und im Ver­ein ge­übt hat­te, aus­zu­zah­len be­gan­nen. Sei­ne Päs­se, sein Ball­ge­fühl und sei­ne Schüs­se wur­den kon­ti­nu­ier­lich bes­ser. Für Klins­mann war das eine wich­ti­ge Lek­ti­on über den Sinn und den Lohn har­ter Ar­beit, die er für sein gan­zes wei­te­res Le­ben ver­in­ner­lich­te.

      „Es war die­ser enor­me An­trieb durch das Spie­len in der Nach­bar­schaft“, er­in­nert sich Klins­mann. „Der Ver­ein war mit ei­nem Spiel und ei­ner Trai­nings­ein­heit nur eine Er­gän­zung. Das ech­te Trai­ning fand in ei­ner Um­ge­bung statt, die sich selbst an­trieb, je­den Tag. Das war mei­ne Haupt­frei­zeit­be­schäf­ti­gung in der Nach­bar­schaft da­mals. Ich ging nach drau­ßen und spiel­te täg­lich nach der Schu­le – oder wenn ich mit mei­nen Haus­auf­ga­ben fer­tig war – drei, vier oder fünf Stun­den Fuß­ball. Ich hat­te kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie gut oder wie schlecht ich war. Ich woll­te ein­fach bes­ser wer­den – und Tore schie­ßen. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, wie die Din­ge sich ent­wi­ckeln wür­den. Ich lieb­te ganz ein­fach das Ge­fühl, Tore zu schie­ßen, egal ob beim Punkt­spiel auf dem Feld oder zwi­schen zwei Stö­cken oder zwei Klei­der­hau­fen. Wann im­mer ich ein Tor schoss, rann­te ich in das Tor hi­n­ein, hol­te den Ball und brach­te ihn so schnell ich konn­te zu­rück zur Mit­tel­li­nie. Ich leg­te den Ball ab und sag­te zu der an­de­ren Mann­schaft: Los, wei­ter.“

      Klins­manns Er­folgs­bi­lanz nach sei­ner denk­wür­di­gen ers­ten Sai­son in der Ju­gend­mann­schaft be­lief sich auf 106 Tore in 18 Spie­len. An­ders aus­ge­drückt also sechs Tore pro Spiel. Das war eine be­acht­li­che Leis­tung für einen Neu­ling in ei­ner Ge­gend, die als eine von vie­len Brut­stät­ten des Fuß­balls in Deutsch­land galt. Sei­ne To­rer­fol­ge weck­ten Klins­manns Ap­pe­tit auf mehr ...

      „Kurz nach sei­nem neun­ten Ge­burts­tag wur­de er so­gar über die en­gen Gren­zen von Gin­gen hi­n­aus be­kannt“, schreibt Ei­tel über die­sen au­ßer­or­dent­li­chen Star in sei­ner Bio­gra­fie über Klins­mann. Ei­tel war Sportre­por­ter für die Stutt­gar­ter Zei­tung und wur­de spä­ter Klins­manns Freund und sein Me­dien­be­ra­ter in Deutsch­land. „Das große Ta­lent Jür­gen Klins­mann wur­de dort in Gin­gen ent­deckt. Es dau­er­te nicht lan­ge, bis er, die Sport­ta­sche tra­gend, die fast so groß war wie er selbst, nach Hau­se kam und auf Schwä­bisch ver­kün­de­te: Mir hen g’won­ne, i han a Tor g’schos­se. Mit der Zeit be­trat Jür­gen im­mer öf­ter am spä­ten Sams­tagnach­mit­tag das Haus der Klins­manns mit die­ser Kun­de.“

      Der An­fang: die deut­sche Ein­stel­lung

      Die mo­der­nen Fuß­ball­re­geln wur­den 1863 zu­nächst in Eng­land stan­dar­di­siert. Aber in der Fol­ge­zeit wur­de der Fuß­ball­sport un­trenn­bar mit der deut­schen Ge­schich­te ver­wo­ben. Man könn­te so­gar be­haup­ten, dass er der deut­schen Na­ti­on seit 1954 einen neu­en Le­bens­sinn ge­ge­ben hat, näm­lich in dem Jahr, in dem die Au­ßen­sei­ter aus der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land al­len Ein­schät­zun­gen zum Trotz die Welt­meis­ter­schaft ge­wan­nen. Mit ins­ge­samt vier WM-Ti­teln 1954, 1974, 1990 und 2014 so­wie dem zehn­ma­li­gen Er­rei­chen des Halb­fi­na­les bei den letz­ten 13 Welt­meis­ter­schaf­ten zählt Deutsch­land zur welt­weit er­folg­reichs­ten Fuß­ball­na­ti­on der letz­ten 60 Jah­re. Das Spiel mag in Eng­land er­fun­den wor­den sein, aber per­fek­tio­niert wur­de es in Deutsch­land. Warum? Warum ist Deutsch­land so er­folg­reich?

      Zu­nächst ist die An­zahl der Deut­schen, die Fuß­ball spie­len, im in­ter­na­tio­na­len Ver­gleich er­staun­lich hoch. Es gibt welt­weit kei­ne an­de­re Fuß­ball­or­ga­ni­sa­ti­on oder eine an­de­re Spor­t­or­ga­ni­sa­ti­on


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