Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum


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und trotz ver­lo­cken­der An­ge­bo­te, zu grö­ße­ren und pres­ti­ge­träch­ti­ge­ren Clubs wie den Stutt­gar­ter Kickers oder dem VfB Stutt­gart zu wech­seln, ent­schied sich Klins­mann, wei­ter für Geis­lin­gen zu spie­len. Die hel­len Lich­ter der Lan­des­haupt­stadt und die schi­cken Na­men ih­rer Fuß­ball­ver­ei­ne konn­ten ihn nicht weg­lo­cken. Er war glück­lich, wei­ter in der Pro­vinz bei sei­nem Klein­stadt­ver­ein zu spie­len. Un­ge­fähr ein hal­bes Jahr lang pen­del­te er mehr­mals die Wo­che nach der Schu­le ei­ni­ge Stun­den von Stutt­gart nach Geis­lin­gen hoch auf die Schwä­bi­sche Alb, um am Trai­ning teil­zu­neh­men. Er hat­te das Glück, nach der Schu­le von ei­nem Pend­ler aus Geis­lin­gen, der in Stutt­gart ar­bei­te­te, mit­ge­nom­men zu wer­den und nahm dann nach dem Trai­ning oft den Zug nach Hau­se oder schlief bei ei­nem Freund in Geis­lin­gen. „Ich spiel­te wei­ter in Geis­lin­gen, weil ich mei­ne Freun­de nicht ver­las­sen woll­te und weil wir bes­ser wa­ren als die Stutt­gar­ter Mann­schaf­ten“, er­zählt Klins­mann mit ei­nem La­chen und ei­nem An­flug sei­nes Wett­kampf­geis­tes, der auch fast 40 Jah­re spä­ter noch vor­han­den ist. „So sa­hen wir das da­mals. Wir hat­ten mit Geis­lin­gen die Lan­des­meis­ter­schaf­ten der un­ter Zwölf- und un­ter Vier­zehn­jäh­ri­gen ge­won­nen und wa­ren bes­ser als die Ju­gend­mann­schaf­ten der Kickers und des VfB Stutt­gart. Als dort be­kannt wur­de, dass mei­ne El­tern nach Stutt­gart zo­gen, woll­ten bei­de Clubs mich ha­ben. Ich ant­wor­te­te: Nein, ist schon okay, ich neh­me den Zug nach Geis­lin­gen.“

      Stutt­gar­ter Kickers

      Das Pen­deln zwi­schen Geis­lin­gen und Stutt­gart be­gann 1978, nach un­ge­fähr sechs Mo­na­ten, an dem 14-jäh­ri­gen Klins­mann zu zeh­ren. Zur sel­ben Zeit, als er der Fah­re­rei müde war, wur­de der jun­ge Stür­mer von ei­nem der bei­den großen Stutt­gar­ter Bun­des­li­ga­ver­ei­ne, den Stutt­gar­ter Kickers, in­ten­si­ver um­wor­ben. Dies war das ers­te Mal, dass er von ei­nem an­de­ren Ver­ein so ernst­haft um­wor­ben wur­de und be­deu­te­te für Klins­mann eine wei­te­re Be­stä­ti­gung, dass har­te Ar­beit sich lohnt. Die Kickers ta­ten al­les, da­mit Klins­mann, der sie über Jah­re mit sei­nen Geis­lin­ger Mann­schafts­kol­le­gen zu oft ge­schla­gen hat­te, sich will­kom­men fühl­te.

      Als Trai­ner der US-ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft sitzt Klins­mann nun auf der an­de­ren Sei­te der Re­kru­tie­rungs­be­mü­hun­gen und ist weit­hin be­kannt für sei­ne be­son­de­re Fä­hig­keit, Spie­ler zu um­wer­ben. Dies gilt be­son­ders für Spie­ler mit dop­pel­ter Staats­bür­ger­schaft, die er über­zeu­gen konn­te, für die Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu spie­len. Klins­mann hat die Er­fah­run­gen nicht ver­ges­sen, die er als jun­ges Ta­lent, das von den Stutt­gar­ter Kickers um­garnt wur­de, ge­macht hat­te. „Er rief mich an und lud mich zu ei­nem US-Trai­nings­la­ger ein“, er­zählt Fa­bi­an John­son, ei­ner der bes­ten USA-Na­tio­nal­mann­schaftss­pie­ler, der in Deutsch­land auf­ge­wach­sen ist und die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft be­sitzt. Er er­in­nert sich gern dar­an, wie Klins­mann und das Trai­ner­team der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft ihm von An­fang an das Ge­fühl ga­ben, will­kom­men zu sein. „Die At­mo­sphä­re hier ist wirk­lich gut. Des­we­gen habe ich mich ent­schie­den, für die USA zu spie­len.“

      Klins­manns schu­li­sche Leis­tun­gen wur­den wäh­rend des hal­ben Jah­res, das er hin- und her­pen­del­te, in Mit­lei­den­schaft ge­zo­gen. Manch­mal schlief er nach ei­nem lan­gen Tag mit Schu­le und Trai­ning auf dem Heim­weg nach Stutt­gart im Zug ein. „Mein Va­ter sag­te: Du musst eine Ent­schei­dung tref­fen, die Schu­le steht an ers­ter Stel­le. Das war un­ge­fähr zur sel­ben Zeit, als die Kickers er­neut auf mich zu­ka­men und mich frag­ten, ob ich nicht ein­fach mal zum Trai­ning vor­bei­kom­men wol­le, um zu se­hen, ob es mir ge­fie­le. Ich sag­te dem Ver­ein in Geis­lin­gen, dass ich bei den Stutt­gar­ter Kickers trai­nie­ren wol­le, weil mein Va­ter be­sorgt sei we­gen mei­ner No­ten. Und sie hat­ten to­tal Ver­ständ­nis. Sie sag­ten: Das ist kein Pro­blem.“ Es war der rich­ti­ge Zeit­punkt, sich zu ver­än­dern, auch wenn er ei­ni­ge Zeit mit der Ent­schei­dung ge­run­gen hat­te. Er war von der Hart­nä­ckig­keit der Kickers be­ein­druckt und fand ihr An­ge­bot ver­lo­ckend. Er spür­te gleich, dass er bei den Kickers eine neue He­r­aus­for­de­rung und ein ver­än­der­tes Tem­po fin­den wür­de, und nach­dem er eine kur­ze Zeit am Trai­ning teil­ge­nom­men hat­te, ent­schied er sich im Som­mer 1978, ganz in die Ju­gend­mann­schaft der Stutt­gar­ter Kickers zu wech­seln. Die Kickers wa­ren nach dem Bun­des­li­ga­ver­ein VfB Stutt­gart der zwei­te Club der Stadt. Klins­mann blieb letzt­end­lich sechs Jah­re bei den Kickers, von sei­nem 14. Le­bens­jahr 1978 bis zu sei­nem 20. Le­bens­jahr 1984 – län­ger, als bei je­dem an­de­ren Ver­ein. In die­ser Zeit lern­te er viel über den Fuß­ball und das Le­ben. Eine Zeit lang wur­de er als Mit­tel­feld­spie­ler ein­ge­setzt und half „den Blau­en“ in sei­ner ers­ten Sai­son in der B-Ju­gend, die würt­tem­ber­gi­schen Re­gio­nal­meis­ter­schaf­ten zu ge­win­nen. „Geis­lin­gen war mei­ne Kom­fort­zo­ne“, sagt Klins­mann mit Rück­blick auf den fast 40 Jah­re zu­rück­lie­gen­den Wech­sel nach Stutt­gart. Im Nach­hi­n­ein be­trach­tet er es als gute Ent­schei­dung – eine frü­he Er­kennt­nis über die Tu­gend, sich ge­gen­über der Ge­fahr der Selbst­zu­frie­den­heit zu ver­wah­ren. „Ich blieb in Geis­lin­gen, weil ich der An­sicht war, dass wir bes­ser als Stutt­gart wa­ren, warum soll­te ich wech­seln? Nur we­gen des großen Na­mens, ob­wohl wir die bes­se­re Mann­schaft hat­ten? Aber in Stutt­gart fühl­te ich mich von An­fang an wirk­lich will­kom­men, und mir wur­de be­wusst, dass dies das Rich­ti­ge war. Ir­gend­wann dach­te ich mir: Weißt du was? Du musst nach vor­ne schau­en, du musst dei­ne ‚com­fort zone‘, dei­ne Woh­fühl­zo­ne ver­las­sen und den nächs­ten Schritt ge­hen. Es war der rich­ti­ge Au­gen­blick, sich zu be­we­gen, es war ein gu­ter Schritt. Und es war auch eine Art Weck­ruf für mich, weil das Trai­ning bei den Kickers noch viel in­ten­si­ver war als das, was ich aus Geis­lin­gen ge­wöhnt war. Und dann ge­wann ich mit den Kickers gleich die Lan­des­ju­gend­meis­ter­schaf­ten.“

      Die Stutt­gar­ter Kickers ver­lo­ren dann bei den deut­schen B-Ju­gend­meis­ter­schaf­ten nur knapp ge­gen Augs­burg; eine un­glück­li­che Nie­der­la­ge, die Klins­mann heu­te, so vie­le Jah­re spä­ter, im­mer noch ir­gend­wie är­gert. Trotz sei­nes wach­sen­den Er­folgs auf der grö­ße­ren Büh­ne in Stutt­gart, war sich Klins­mann wei­ter­hin un­si­cher, wie weit er mit dem Fuß­ball kom­men wür­de. In ganz Deutsch­land gab es tau­sen­de jun­ger Fuß­ball­ta­len­te, die da­bei wa­ren, sich ih­ren Weg nach oben zu bah­nen. Klins­mann be­schränk­te sich dar­auf, eine He­r­aus­for­de­rung nach der an­de­ren an­zu­neh­men und vor al­lem dar­auf, sein sich kon­stant ver­bes­sern­des Spiel zu ge­nie­ßen. Er wuss­te um sei­ne Fä­hig­kei­ten, aber der Ge­dan­ke, er kön­ne ei­nes Ta­ges in der Bun­des­li­ga oder gar in der Na­tio­nal­mann­schaft spie­len, schi­en ihm im­mer noch zu kühn.

      „Ich ver­folg­te im­mer nur das Ziel, das als nächs­tes vor mir lag. In ei­ner Mann­schaft zu spie­len, die man nur aus dem Fern­se­hen kann­te, war kein Ziel, das ich mir da­mals set­zen konn­te. Wenn wir das Team spie­len sa­hen, was die WM von 1974 ge­won­nen hat­te, ging ich nach drau­ßen und fei­er­te die Tore, die Gerd Mül­ler ge­schos­sen hat­te. Es wäre mir aber als Zehn­jäh­ri­gem nicht in den Sinn ge­kom­men zu sa­gen: Du musst ei­nes Ta­ges auf der­sel­ben Po­si­ti­on spie­len


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