Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
sehen, wie sich ihre Nationalmannschaft bei einem großen Turnier wie einer Weltmeisterschaft oder einer Europameisterschaft anstellt.
Es gibt viele Zutaten, die diesen Sport besonders machen, und er ist zugegebenermaßen etwas für Kenner. Für einen Amerikaner, der wie ich ohne Fußball im Fernsehen zu sehen aufwuchs und stattdessen aktiv und passiv mit einer Fülle an anderen Sportarten großgeworden ist, kann es eine Weile dauern, bis man die Schnelligkeit, das Können, die Kunstfertigkeit, das Durchhaltevermögen, die Genialität und die unglaubliche Athletik wertschätzen kann, welche die weltbesten Fußballer aufzeigen. Football, Baseball und Basketball erscheinen mir inzwischen viel weniger interessant, ja fast langweilig mit all ihren ständigen Unterbrechungen und Wiederanfängen, trotz der hohen Torfrequenz. Ich habe schon lange aufgehört, in Europa bis spät in die Nacht aufzubleiben um irgendwelche amerikanischen Sportarten im Fernsehen zu verfolgen und kann mich nicht einmal dazu aufraffen, wenn ich in den Vereinigten Staaten bin. Stattdessen herrschen bei mir inzwischen umgekehrte Verhältnisse, was so weit geht, dass ich extra früh aufstehe, um den europäischen Fußball zu verfolgen, wenn ich in den Vereinigten Staaten bin und in Übersee die Ergebnisse nachschaue.
Im Fußball gibt es keine Werbeunterbrechungen und keine Verletzungsauszeiten – es ist wie im wahren Leben, wo es keine Möglichkeit gibt, die Uhr anzuhalten. Es ist ein Sport, dessen Spiele seit seiner Erfindung vor mehr als einem Jahrhundert 90 Minuten dauern, die lediglich durch eine kurze Halbzeitpause unterbrochen werden. Es gibt nur wenige Sportmomente, die so fesselnd sind wie die ununterbrochene und unaufhaltsame Dramatik der letzten zwei oder drei Minuten eines engen Fußballspiels, in dem ein Team verzweifelt darum kämpft, ein Tor zu schießen, um das Spiel zu gewinnen oder ein Unentschieden zu erzielen – oder alles daransetzt, dies zu verhindern. Und es gibt nichts, was an die Freude herankommt, die in fast jedem Stadion auf der ganzen Welt ausbricht, wenn eine Mannschaft in einem wichtigen Spiel endlich ein Tor schießt. „Über Fußball macht man sich oft lustig, weil so wenige Tore fallen, aber eben weil Tore so rar sind, ist die Freude darüber größer als in jedem anderen Sport“, argumentierten Simon Kuper und Stefan Szymanski in ihrem 2009 erschienenen Buch Soccernomics.
Fußball kann so starke Emotionen auslösen, dass dadurch sogar einmal ein Krieg zwischen Honduras und El Salvador wurde. Dieser sogenannte „Fußballkrieg“ ereignete sich 1969 und dauerte 100 Stunden. Seine Ursachen gingen über den Fußball hinaus, aber er entbrannte unglaublicherweise, nachdem El Salvador Honduras mit 2:1 Spielen in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1970 geschlagen hatte. Bei der Weltmeisterschaft 1994 schied Kolumbien aus, nachdem die USA die Südamerikaner dadurch 2:1 besiegt hatten, dass Kolumbiens Verteidiger Andrés Escobar durch ein Eigentor den Siegestreffer für die Vereinigten Staaten erzielt hatte. Escobar hatte versucht, den Pass von Amerikas Mittelfeldspieler John Harkes abzufangen, dabei den Ball aber versehentlich ins eigene Tor gelenkt. Zehn Tage später wurde er mit sechs Schüssen ermordet – der Täter schrie beim Schießen „Tor!“.
Fußball ist ein Sport, den Menschen eines jeden Alters auf sechs Kontinenten spielen. Es vereint die Welt wie keine andere Sportart, besonders während der alle vier Jahre ausgetragenen Weltmeisterschaften. Interessanterweise ist es ein Spiel, mit dem sich die Vereinigten Staaten in der internationalen Arena, wo Fußball mit so viel Leidenschaft gespielt wird, aus verschiedensten Gründen immer noch in der Lernphase befinden. Aber es ist auch ein Sport, in welchem die USA eines Tages zu den Weltbesten gehören könnten; vorausgesetzt, die Amerikaner wären in der Lage, Fußball als etwas ganz anderes wertzuschätzen und zu akzeptieren, dass es ein Sport mit internationalen Standards und Abläufen ist und kein Spiel, dessen Regeln und Richtlinien die Vereinigten Staaten bestimmen können.
Die USA haben ein enormes bisher ungenutztes Potenzial, was den Fußball angeht. Außerdem sind sie in der glücklichen Lage, einen der weltbesten Trainer zu haben mit einem reichen Erfahrungsschatz sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten – Jürgen Klinsmann.
Er gewann als Stürmer für Deutschland die Weltmeisterschaft 1990, indem er drei Tore schoss, und ist einer der erfolgreichsten WM-Torschützen aller Zeiten mit elf Toren in drei Turnieren. Nach seinem Rücktritt als Spieler zog er 1998 in die USA und erreichte später als Trainer der deutschen Nationalmannschaft den dritten Platz bei der WM 2006, während sein Hauptwohnsitz in Kalifornien blieb und er nach Deutschland pendelte: 42 Langstreckenflüge im Laufe jener zwei Jahre. 2011 wurde er als Trainer der amerikanischen Nationalmannschaft engagiert – nach einer rekordverdächtigen Anwerbephase, die mit vielem Hin und Her insgesamt fünf Jahre dauerte. Er brachte durchgreifende, teils umstrittene Reformen auf den Weg, die der amerikanischen Nationalmannschaft 2013 zu einem Rekord-Erfolgsjahr verhalfen. Die Mannschaft hatte zwölf Siege in Folge, qualifizierte sich zum siebten Mal für die Weltmeisterschaft und übertraf mit dem Erreichen der Runde der letzten 16 Mannschaften alle Erwartungen, nachdem das Team in der sogenannten „Todesgruppe“, der schwierigsten Vierergruppe des Turniers, Zweiter hinter Deutschland geworden war. Hierfür wurde Jürgen Klinsmann von der FIFA als einer von zehn Trainern für die Wahl zum weltbesten Trainer des Jahres nominiert. Klinsmann ist ein furchtloser, reformorientierter Trainer und technischer Leiter mit unerschütterlichen Überzeugungen, der innerhalb des wichtigen westeuropäischen Fußballnetzwerkes, Wiege des Sports, dessen Ursprungsländer bisher die Weltmeisterschaften dominierten, über gute Verbindungen verfügt. Klinsmann weiß, was nötig ist, um eine der weltbesten Fußballnationen zu formen, und die Herausforderungen dieser langen Reise faszinieren ihn.
Fußball ist anders. Seine Regeln, Bräuche, Traditionen und sein Erbe unterscheiden sich komplett von anderen amerikanischen Sportarten, obwohl es in den 20er-Jahren vor dem Zusammenbruch der Aktienmärkte und der folgenden Weltwirtschaftskrise eine bemerkenswert „goldene Ära“ gab, als Fußball, dank der hohen Anzahl neu angekommener Immigranten aus Europa, in einigen Gegenden der USA für eine kurze Zeit tatsächlich populärer als Football war. Aber rivalisierende Ligen und die steigende Popularität des College Footballs trugen zusammen mit dem Börsencrash zu einem frühen Niedergang des Profifußballs bei.
Dennoch ist Fußball kein Spiel, das