Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
von Fußballspielen in den USA zu verstehen und um mit den aus Lateinamerika stammenden Spielern besser kommunizieren zu können; aber auch ganz einfach, weil er gern Fremdsprachen lernt. Gelegentlich unterhielten wir uns auch darüber, was er bei seinen mehrwöchigen Hospitanzen bei den Los Angeles Lakers oder dem USC-Football-Team gerade gelernt hatte. Jürgen Klinsmann zeichnet eine unstillbare Neugierde aus, und obwohl er zu der Zeit nicht als Trainer tätig war, löste es bei mir den Wunsch aus, seine Ideen und seine Art, den Status quo infrage zu stellen und immer nach einem Weg zu suchen, wie man die Dinge noch besser machen kann, in Ruhe und in der Tiefe in einem Buch nachlesen zu können. Aber ich musste feststellen, dass es ein solches Buch über Klinsmann nicht gab.
Also fragte ich ihn vor etwa acht Jahren, warum es keine englischsprachigen Biografien oder Bücher über seine Ideen gäbe und ob er sich vorstellen könne, dass ich ein Buch über sein Leben und seine Trainingsphilosophie schreiben würde. Ich fand den Gedanken spannend, Klinsmanns Wissen, Neugier und Tatkraft sowie seine Ideen bezüglich Fußball und Training im Allgemeinen auch in den USA einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Aber Klinsmanns Antwort lautete immer höflich, aber bestimmt: „Nein danke!“
Er war einfach nicht interessiert zurückzuschauen. Klinsmann genoss es sichtlich, in Kalifornien in relativer Anonymität leben zu können. Er genoss diese Freiheit und zeigt keine Spur von Eitelkeit. Über sich selbst zu sprechen, bereitet ihm irgendwie ein gewisses Unbehagen. Klinsmann wechselt in diesem Fall entweder zügig das Thema oder nutzt statt des „Ichs“ das unpersönliche „Man“. Eine rückblickende Biografie war das Allerletzte, was ihm wichtig war. Womöglich könnte irgendeine Zeitung sogar auf die Idee kommen, einzelne Aussagen aus dem Zusammenhang zu nehmen, um sie für eine reißerische Schlagzeile zu missbrauchen. Jürgen Klinsmann hatte keine alten Rechnungen zu begleichen und war mit sich im Reinen. Er sah überhaupt keine Notwendigkeit, in die Vergangenheit zurückzublicken. Das war eben nicht sein Ding.
Kurz nach der Weltmeisterschaft 2014, inmitten einer weiteren spannenden Diskussion darüber, wie unterschiedlich Amerikaner beziehungsweise besser und Deutsche die Begriffe Geduld und „Langzeitperspektive“ betrachten, wagte ich einen letzten Versuch, ihn doch noch umzustimmen: „Hey Jürgen, ich bin ein Amerikaner, der sein halbes Leben in Deutschland verbracht hat und du bist ein Deutscher, der bereits fast die Hälfte seines Lebens in den USA gelebt hat. Wer also könnte besser als ich in einem Buch für die Amerikaner darüber schreiben, woher du kommst und was du in den USA mit dem Fußball verwirklichen möchtest?“ Er lächelte und antwortete dieses Mal plötzlich anders: „Okay, ich denke mal darüber nach.“ Vielleicht gefiel ihm die Hartnäckigkeit? Oder dachte er, dass jemand, der die Dinge von außen betrachtet, vielleicht doch interessante Perspektiven aufzeigen könnte? Oder wollte er nur endlich seine Ruhe vor mir haben? Einige Wochen später rief er mich an und sagte mir, dass er auf keinen Fall eine Autobiografie wolle, dass er aber nichts dagegen habe, wenn ich unsere Gespräche und unsere Interviews in Form eines Buches veröffentliche.
Zu unseren frühmorgendlichen Treffen, oft bei bestem Kaffee in der Sonne Kaliforniens oder vor Freundschaftsspielen der amerikanischen Nationalmannschaft in Europa, hatte ich immer eine Menge Fragen im Gepäck. Manchmal schafften wir es nur, ein oder zwei oder drei dieser Fragen zu besprechen, weil seine Begeisterung über Fußball an sich und die Rolle des Fußballs in den Vereinigten Staaten derart mit ihm „durchging“, dass wir stundenlang nur darüber sprachen. Jürgen Klinsmann beantwortete geduldig Fragen zu seiner Vergangenheit, aber war eindeutig mehr an der Zukunft interessiert. Ich hatte mich immer gefragt, warum er in früheren Interviews Fragen zu seiner Vergangenheit als Spieler nur ungern beantwortet hatte. Jetzt verstand ich ihn: „Den Spieler Klinsmann gibt es nicht mehr“, sagte er.
Es wurde in unseren Gesprächen klar, dass Jürgen Klinsmann als Trainer der amerikanischen Nationalmannschaft nur ein Ziel hat und zwar, das Beste aus der Mannschaft herauszuholen und seiner so lieb gewonnenen Wahlheimat eines Tages vielleicht sogar zum Weltmeisterschaftstitel zu verhelfen. Die Erfolgsformel ist dabei der ähnlich, mit der er der deutschen Nationalmannschaft von 2004–2006 so sehr geholfen hat, aus der Versenkung heraus wieder an die Weltspitze zu kommen und mit deren Hilfe er den FC Bayern München zu einer neuen Stärke in der Champions League führte. Dabei ist sich Klinsmann bewusst, dass Wunschdenken und Wünsche allein nicht ausreichen. Herausforderungen müssen gemeistert werden und auch unbequeme Wahrheiten zur Sprache kommen.
Teil I
Klinsmann – die frühen Jahre
Wie alles begann
Jürgen Klinsmann war ein achtjähriges blondes Energiebündel, als er das erste Mal in einem Verein Fußball spielte. Das war 1973, und wie die meisten Jungs in seinem Alter nutzte er zuvor schon seit frühester Kindheit jede Gelegenheit, um mit seinen Kumpels Fußball zu spielen: auf der Straße, in Parks und in den Pausen auf dem Schulhof.
Bevor Jürgen Klinsmann mit acht Jahren erstmals in einer Mannschaft spielte, mit Regeln, Trikots und einem Trainer, hatte er es ein Jahr zuvor mit Turnen versucht, wozu ihn sein Vater animiert hatte. Siegfried Klinsmann, zu der Zeit 40 Jahre alt und von Beruf Bäckermeister, hatte in seiner Jugend geturnt und war in seiner Freizeit Trainer im örtlichen Turnverein, dem TB Gingen. Er dachte, dass Turnen für seinen Sohn eine gute Herausforderung sein könne und ein Ventil, einen Teil von Jürgens reichlich vorhandener Energie abzubauen. Also nahm er seinen zweitältesten Sohn mit in den Turnverein, als dieser sieben war. Aber das Bodenturnen, der Grätschsprung und der Balancierbalken hinterließen bei Jürgen keinen bleibenden Eindruck. Es fehlten ihm Spannung und „Action“, wie er sich erinnert. Ein wenig später nahmen ihn seine Kumpels mit zum Handballtraining. Aber auch das konnte ihn nicht nachhaltig überzeugen.
Im Winter 1973, einige Monate nachdem Deutschland 1972 die erste von drei Europameisterschaften gewonnen hatte, nahmen Freunde ihn mit zum Training der Fußballmannschaft des Turnerbund Gingen. Er war damals achteinhalb Jahre alt und liebte das Spiel in seiner organisierten Form sofort genauso, wie er zuvor das Kicken mit Freunden geliebt hatte. Die Schnelligkeit, Bewegung, die Energie des Sports faszinierten ihn und ganz besonders das Freudengefühl, wenn es ihm gelang, ein Tor zu schießen.
„Ich habe es einfach geliebt, viel zu laufen,