Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum
den darauffolgenden Jahren stetig nach oben bis zur Spitze. Tausende Jungen in seinem Alter begannen 1973 in einem Verein Fußball zu spielen, aber nur wenige erreichten die obere Stufe der Pyramide, die Bundesliga, und noch weniger schafften es wie er bis zur Spitze, in die Nationalmannschaft.
In den USA fehlen diese klaren Strukturen in der Fußballpyramide noch immer, und es ist eine nicht unwichtige Sache, die Klinsmann zu ändern versucht, seit er 2011 Trainer und 2013 Technischer Direktor der amerikanischen Nationalmannschaft wurde.
Als Kind hatte Klinsmann keine Vorstellung davon, wie weit er es im Fußball bringen würde. Er liebte es einfach, Fußball zu spielen und gemeinsam mit seinen Mannschaftskameraden und Freunden seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Sein Ziel damals war es, in die erste Mannschaft des TB Gingen zu kommen, einem Verein, der 1870 als Turnverein gegründet wurde. Im Laufe der Zeit kamen eine Handball-, eine Leichtathletik- und eine Fußballabteilung dazu. Viele Turnvereine wurden in Deutschland als Teil der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts gegründet, lange bevor im Jahre 1874 der Fußball aus England importiert wurde. Aus diesem Grund tragen auch heute noch viele deutsche Spitzenclubs den Zusatz „Turnen“ im Vereinsnamen.
Jürgen Klinsmann genoss es, in einer Mannschaft Fußball zu spielen und merkte, wie sich seine Fähigkeiten durch das stundenlange Üben im Verein und zu Hause rasch und wie von selbst verbesserten. Im Gegensatz zu den USA gibt es in Deutschland keine Sportclubs als Teil der schulischen Aktivitäten, so dass die Kinder und Jugendlichen für diese Wettkampfaktivitäten Mitglied in einem Sportverein werden müssen. Klinsmanns tiefe langjährige Verbundenheit mit dem Fußballsport geht also ganz klar auf seine Zeit im TB Gingen zurück.
Es gibt zwischen den Städten in den USA und in Deutschland viele kleinere und größere kulturelle Unterschiede. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass in einem Dorf wie Gingen, einer verschlafenen 4.000-Seelen-Ortschaft am Ufer des Flusses Fils, die vor mehr als 1.000 Jahren gegründet wurde, Zeit und Fortschritt mit einem anderen Maßstab gemessen werden als in den USA. Wenn die Bewohner eines Städtchens mit mehr als 1.000-jähriger Geschichte von einer Langzeitperspektive sprechen, so meinen sie damit nicht Wochen oder Monate. Geduld ist ein Bestandteil ihres Lebens. Wenn Jürgen Klinsmann von einer Langzeitperspektive für den US-amerikanischen Fußball spricht, dann tut er dies vor dem Hintergrund seiner deutschen Wurzeln und denkt dabei in Zeiträumen von Jahren oder Dekaden oder eventuell sogar Generationen anstatt von Monaten oder ein bis zwei Jahren.
Die Wochenend-Spiele des TB Gingen zogen dutzende von Zuschauern aus dem Ort an und zwar nicht nur Eltern und Freunde, sondern zahlreiche Bürger, die Freude daran fanden, den Kindern bei der Ausübung des beliebtesten deutschen Sports zuzuschauen. Klinsmanns Vater kam regelmäßig auf den Platz und schaute, wenn irgend möglich, bei jedem Spiel zu, nachdem die Arbeit in der Bäckerei für den Tag getan war.
Der organisierte Fußball ist bekanntermaßen eine ernsthafte Angelegenheit in ganz Deutschland. Der DFB, der Deutsche Fußball Bund, ist mit 6,9 Millionen Mitgliedern die größte Organisation dieser Art weltweit. Als sich Klinsmann beim TB Gingen einschrieb, war er damit eines von 112.858 Kindern in der Bundesrepublik Deutschland, die 1973 Mitglied eines Fußballvereins wurden. Die Mitgliedsgebühren waren mit ungefähr 30 DM im Jahr bezahlbar, so wie sie es auch heute noch sind. Trainer waren damals wie heute meist ehemalige Vereinsspieler, welche die Traineraufgabe in der Regel ehrenamtlich übernahmen. Dies steht in einem weiteren Gegensatz zur Situation in den Vereinigten Staaten, wo Trainer meistens hauptamtlich tätig sind, dafür aber nicht unbedingt über eigene Erfahrungen als Spieler verfügen. Dadurch, dass Fußball in Deutschland seit jeher eine relativ preiswerte Sportart war, war und ist er bei Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten beliebt, vor allem in Familien mit eingeschränkten finanziellen Mitteln. „Wir kamen alle aus Familien mit einem bescheidenen Einkommen und haben uns durchgekämpft“, erzählt Klinsmann. „International betrachtet, ist Fußball ein Sport, den hauptsächlich Kinder aus Familien der Unter- und Mittelschicht ausüben. In den USA ist dies anders.“
Es gab 1973 insgesamt 98.911 Mannschaften in den 15.980 Clubs, die damals beim DFB registriert waren. Von 1972 bis 1973, dem Jahr, in dem Klinsmann Vereinsmitglied wurde, stieg die Mitgliederzahl der beim DFB eingeschriebenen Spieler von 3.084.901 auf 3.197.759 an. In den nächsten vier Jahrzehnten verdoppelte der DFB seine Mitgliederzahl auf 6.889.115 im Jahr 2015. Anders ausgedrückt, spielten 2015 in Deutschland mehr Menschen Fußball, als Dänemark, Finnland oder Jordanien Einwohner haben.
Die Punktspiele der Kinder und Jugendlichen waren in vielen kleinen und größeren Städten in ganz Deutschland wichtige Ereignisse, die nicht nur den Kindern ein Ventil boten, sondern gleichzeitig eine wichtige gesellschaftliche Funktion in den Gemeinden einnahmen, die sportbegeisterte Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern und innerhalb der Gemeinden verbinden. Die Zahl der neuen Vereinsmitglieder steigt normalerweise in den auf einen EM- oder WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft folgenden Jahren signifikant an, nachdem praktisch die gesamte Nation das Turnier im Fernsehen verfolgt hat mit Rekordeinschaltquoten von bis zu 86 %. Das Jahr 1973, ein Jahr, nachdem die Bundesrepublik die Sowjetunion mit 3:0 geschlagen hat und damit bei der EM in Belgien erstmals den Europameistertitel gewann, stellte hierbei keine Ausnahme dar. Tausende Kinder im ganzen Land wurden wie Klinsmann dadurch motiviert, Mitglied in einem Fußballverein zu werden.
Die klassische amerikanische „soccer mom“ gibt es in Deutschland in dieser Form nicht und erfordert in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt großen Erklärungsbedarf. Denn Fußball ist in Deutschland ein Sport, der Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen gleichermaßen begeistert und ist nicht auf die Hausfrauen aus den besser gestellten Vororten beschränkt, die ihre Kinder zu diversen außerschulischen Aktivitäten kutschieren. In Deutschland schauen bei den Spielen Mütter, Väter, Geschwister, Tanten und Onkel, Oma und Opa zu und fahren und begleiten ihre Kinder, Geschwister oder andere Familienmitglieder freudig zum Training und zu Punktspielen. „Als Kind wird man von seiner Umgebung geprägt, und meine Umgebung war halt ein kleiner Verein in meinem Heimatort, der verschiedene Sportarten anbot – Turnen, Handball und Fußball“, erzählt Klinsmann, der in den USA versucht, eine ähnlich breitbasige Struktur für den Fußballsport