Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen. Erik Kirschbaum

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum


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ei­nes win­zi­gen Mo­ments von ei­nem un­ter­le­ge­nen Geg­ner, ei­nem Au­ßen­sei­ter, ge­schla­gen wer­den, wenn er es schafft, einen „Glücks­tref­fer“ zu er­zie­len, so wie ein de­klas­sier­ter Bo­xer, der al­len Wet­ten zum Trotz mit ei­nem „lucky punch“ einen Knock-out-Sieg er­langt. Und es ist ein un­ge­wöhn­lich un­vor­her­seh­ba­res Spiel, in dem un­ter­le­ge­ne Mann­schaf­ten über­le­ge­ne Teams durch An­griffs­lust, Wil­lens­kraft und den wort­wört­li­chen „Schuss ins Blaue hi­n­ein“ so aus dem Kon­zept brin­gen kön­nen, dass der hohe Fa­vo­rit letzt­lich als Ver­lie­rer vom Platz geht.

      Auch über Fuß­ball zu schrei­ben ist an­ders als bei an­de­ren Sport­ar­ten. Wenn 50 Sport­jour­na­lis­ten zu­sam­men auf der Pres­se­tri­bü­ne sit­zen, um über ein Fuß­ball­spiel zu be­rich­ten, ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass hin­ter­her 50 ver­schie­de­ne In­ter­pre­ta­tio­nen des Spiel­ver­laufs da­bei he­r­aus­kom­men. Fuß­ball ist wie eine wei­ße Lein­wand mit 22 Künst­lern auf dem Feld, die sich ab­ra­ckern, nach­den­ken, sprin­ten, an­grei­fen und kämp­fen und da­bei ein Meis­ter­werk er­schaf­fen mit Spiel­zü­gen und Be­we­gun­gen, die nie­mals wie­der­holt wer­den kön­nen. Einen eben­so wich­ti­gen Be­stand­teil der Fuß­ball­kul­tur bil­den die end­lo­sen Dis­kus­sio­nen nach den Spie­len dar­über, wer gut oder wer schlecht ge­spielt hat, wer das Spiel für sei­ne Mann­schaft ent­schie­den oder rui­niert hat, wel­ches Team ver­dient hat zu ge­win­nen oder nicht, war es ein Tor oder war es keins? Fuß­ball­spie­le las­sen viel mehr Raum für In­ter­pre­ta­tio­nen als an­de­re gän­gi­ge ame­ri­ka­ni­sche Sport­ar­ten, weil es so we­nig mess­ba­re „Sta­tis­ti­ken“ oder „Re­sul­ta­te“ aus den 90 Mi­nu­ten gibt, ab­ge­se­hen na­tür­lich von den er­ziel­ten To­ren, Eck­stö­ßen, Gel­ben oder Ro­ten Kar­ten oder ge­lau­fe­nen Ki­lo­me­tern. Es gibt au­ßer­dem nur drei Schieds­rich­ter, um die 22 Spie­ler zu be­auf­sich­ti­gen, was noch mehr Raum für Irr­tü­mer, In­ter­pre­ta­tio­nen und Dis­kus­sio­nen schafft. Vie­le Deut­sche bei­spiel­wei­se be­har­ren heu­te noch dar­auf, dass Geoff Hursts Tor für Eng­land, in der Nach­spiel­zeit des Welt­meis­ter­schafts­fi­na­les im Lon­do­ner Wem­bley-Sta­di­on im Jah­re 1966, also vor ei­nem hal­ben Jahr­hun­dert, nicht über der Li­nie war und da­her nicht hät­te ge­zählt wer­den dür­fen. Es ging als neu­es Wort so­gar in die deut­sche Spra­che ein, in­dem das „Wem­bley­tor“ zum Syn­onym für un­ver­dien­te oder un­recht­mä­ßi­ge Ge­win­ne wur­de.

      Es mag sein, dass es in je­dem Spiel be­son­de­re Wen­de­punk­te gibt wie bei an­de­ren Sport­ar­ten, auf die sich Sport­jour­na­lis­ten fo­kus­sie­ren. Aber Fuß­ball ist we­ni­ger die Sum­me der Er­geb­nis­se aus je­dem Spiel, wie dies beim Foot­ball, Ba­se­ball oder Bas­ket­ball der Fall ist. Statt­des­sen ist es ein Spiel vol­ler Über­ra­schun­gen, Im­puls­än­de­run­gen, blitz­ar­ti­ger Ge­gen­an­grif­fe, bril­lan­ter Ret­tungs­ak­tio­nen von den Au­ßen­sei­tern, die plötz­lich „ent­ge­gen dem Spiel­ver­lauf“ ein fa­bel­haf­tes Ge­gen­tor schie­ßen, aus­ge­führt von ei­ner Mann­schaft, die zu­vor kom­plett an die Wand ge­spielt schi­en. Und dann sind da die wirk­lich ma­gi­schen Spie­le, in de­nen bei­de Mann­schaf­ten plötz­lich ge­ra­de­zu über sich hi­n­aus­zu­wach­sen schei­nen und die Men­ge mit krea­ti­ven An­grif­fen und ner­ven­kit­zeln­den Tor­chan­cen oder To­ren mit­rei­ßen.

      Manch­mal kann man ge­ra­de­zu füh­len, wie sich die Kraft der ju­beln­den Zu­schau­er­men­ge von den Rän­gen hi­n­un­ter auf das Spiel­feld über­tragt, ein Ener­gie­stoß, der die Spie­ler an­zu­trei­ben scheint, schnel­ler zu ren­nen und al­les zu ge­ben.

      Egal ob man auf dem Flug­ha­fen in Athen, in ei­nem Bus in Ber­lin, in ei­nem Café in Kai­ro, in ei­ner Fan-Bar in Flo­renz, in ei­nem Ho­tel in Hel­sin­ki, auf ei­nem Markt in Mos­kau, in ei­nem Nacht­club in Ni­ge­ria, in ei­nem Pub in Pre­to­ria, in ei­nem Re­stau­rant in Rio, in ei­nem Taxi in To­kyo, in ei­ner Sau­na in Schwe­den oder so­gar in ei­nem Zoo in Zaire sitzt – die Chan­cen ste­hen gut, dass man es schafft, mit egal wem ins Ge­spräch zu kom­men, wenn man an­fängt, von Fuß­ball zu spre­chen, von dem letz­ten Cham­pi­ons-League-Spiel, der letz­ten Welt­meis­ter­schaft oder der nächs­ten Welt­meis­ter­schafts­qua­li­fi­ka­ti­on.

      Fuß­ball ist das Spiel, das die Welt mehr zu­sam­men­führt als die Ver­ein­ten Na­tio­nen. „Große Fuß­bal­ler­eig­nis­se lie­fern et­was von dem Ge­mein­sinn, für den frü­her Ge­werk­schaf­ten, Kir­chen und roya­le Hoch­zei­ten zu­stän­dig wa­ren“, schrie­ben Si­mon Ku­per und Ste­fan Szy­man­ski in Soc­cer­no­mics. Wich­ti­ge Fuß­ball­spie­le ha­ben in fast al­len eu­ro­päi­schen Län­dern die­se einen­de Rol­le ... Es gibt nichts, was eine Ge­sell­schaft in der Wei­se zu­sam­menschweißt wie eine Welt­meis­ter­schaft, wenn die ei­ge­ne Mann­schaft da­bei ist. Aus­nahms­wei­se schaut fast je­der im Land plötz­lich das­sel­be Fern­seh­pro­gramm und spricht am nächs­ten Tag bei der Ar­beit dar­über.

      Be­zeich­nen­der­wei­se neh­men die ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten Fuß­bäl­le, kei­ne Foot­ball- oder Ba­se­ball­bäl­le, wenn sie in der Nähe ih­rer Mi­li­tär­sta­tio­nen im Irak, in Af­gha­nis­tan oder La­tein­ame­ri­ka ver­su­chen, Kon­takt zu den ein­hei­mi­schen Kin­dern auf­zu­bau­en. Mehr als Eng­lisch ist Fuß­ball die Lin­gua fran­ca des 21. Jahr­hun­derts. Es ist das Spiel, das die Welt spielt. Warum ein Buch über Jür­gen Klins­mann? Ich hat­te das Glück, Jür­gen Klins­mann wäh­rend der zwei Jah­re bis zur Welt­meis­ter­schaft 2006 ken­nen­zu­ler­nen, in de­nen er Trai­ner der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft war.

      An­fangs war ich nur ei­ner der vie­len ner­vi­gen Jour­na­lis­ten, die bei den Pres­se­kon­fe­ren­zen in Deutsch­land un­be­que­me Fra­gen stell­ten. Zu mei­ner an­ge­neh­men Über­ra­schung be­ant­wor­te­te Klins­mann die Fra­gen mit kla­ren, ehr­li­chen und in­tel­li­gen­ten Ant­wor­ten, an­statt mit den üb­li­chen Kli­schees oder „cle­ve­ren“ Aus­weich­ma­nö­vern zu re­agie­ren. So et­was hat­te ich noch nie zu­vor er­lebt. Ich hat­te wäh­rend die­ser zwei Jah­re auch meh­re­re Ge­le­gen­hei­ten, Klins­mann zu in­ter­view­en, zum Teil in sei­ner Wahl­hei­mat in Süd­ka­li­for­ni­en, wo er je­den Mo­nat ei­ni­ge Wo­chen zwi­schen den Spie­len und Trai­nings­ein­hei­ten in Deutsch­land ver­brach­te. Ich lern­te ihn als in­ter­essan­ten, un­kom­pli­zier­ten, un­prä­ten­ti­ösen, ehr­li­chen und un­glaub­lich sym­pa­thi­schen Ge­sprächs­part­ner ken­nen. Als Jour­na­list be­wun­de­re ich seit je­her Per­sön­lich­kei­ten, die kei­ne Angst ha­ben, an­ge­stamm­te Weis­hei­ten be­zie­hungs­wei­se den Sta­tus quo an­zu­zwei­feln und Klins­mann war ei­ner der mu­tigs­ten, der sich ohne Angst ge­traut hat, das Sys­tem auf­zu­rüt­teln und Din­ge ins Rol­len zu brin­gen. Wir setz­ten un­se­re Ge­sprä­che fort, nach­dem Klins­mann auf­ge­hört hat­te, die deut­sche Na­tio­nal­mann­schaft zu trai­nie­ren. Wir tra­fen uns teils in Deutsch­land, teils in den USA und die Ge­sprä­che dreh­ten sich nicht not­wen­di­ger­wei­se nur um Fuß­ball, aber egal wor­über wir uns un­ter­hiel­ten, wa­ren sie glei­cher­ma­ßen auf­schluss­reich, in­spi­rie­rend und zu­tiefst er­freu­lich.

      Die In­ter­views mit Jür­gen Klins­mann zäh­len zu den denk­wür­digs­ten, die ich in 40 Be­rufs­jah­ren als Jour­na­list hat­te. Er war nicht nur en­thu­sias­tisch be­züg­lich sei­nes Jobs und sei­ner Zie­le, son­dern sprüh­te auch vor Ide­en. Er war neu­gie­rig


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