Sturm auf Essen. Hans Marchwitza
nicht verfänglich.
Draußen waren langsame, schwere Schritte zu hören. Willi Werner stand auf und ging an ein Fenster. Sein dickes, schläfriges Gesicht verzog sich einen Augenblick in Hohn.
Auch Herr Kleinemann war an ein anderes Fenster getreten und sah hinaus. Zwei Leute mit Binden um den Arm und mit Gewehren über den Schultern gingen auf der Straße.
„Vom Soldatenrat?“ bemerkte Herr Kleinemann fragend.
Willi warf ihm einen Wutblick zu und schlenderte wieder hinter seinen Stammtisch.
Der Krämer wußte genug. Hier war man keineswegs Ton der Revolution erbaut. Hier konnte man im Notfall etwas hören, wie man sein Verhalten balancieren solle. Er trank den Rest Schnaps aus, sagte noch einmal: „Mist ...“ und ging, um sich draußen noch weiter umzusehen.
In keinem Laden sah es besser aus; alles Wüste, Mist, wie seiner. Gut so ...!
Da kam einer in Uniform und mit der Armbinde. Herr Kleinemann blieb eine Minute lang mit offenem Mund stehen. „Wirklich? Oder täuschen mich meine Augen ... Der Stübel ...! Der Gemüsefritze ...“
Stübel hatte ihn gleich wiedererkannt und kam auf ihn zu.
„Servus. Du wunderst dich, daß du mich in diesem Aufzug siehst?“ sagte er etwas verlegen, „aber, wie gesagt, wer sich heut nicht nach der Decke streckt, der geht vor die Hunde“, entschuldigte sich der ehemalige Gemüsehändler.
Herr Kleinemann überlegte schnell, wie er sich diesem Kerl gegenüber verhalten sollte. So sagte er nur: „Das stimmt. Ich habe jetzt auch genug Zeit, mich in meinem Laden umzusehen, ein Dreck ist übriggeblieben. Man muß wieder ganz von neuem anfangen.“
„Mit dem Neuanfangen können wir noch sehr lange warten“, entgegnete Stübel. „Verhungern kannst du bis dahin. Ich hab’ mich einfach kurz entschlossen, mit der Soldatenwehr rumzutrampeln. Und schließlich ist unsereiner ja doch von der Menge abhängig ...“
„Das stimmt“, sagte Herr Kleinemann noch einmal. Er studierte dabei das Gesicht des Gemüsehändlers, von dem er wußte, daß er immer ein geriebener Spekulant gewesen war.
„Ich würde mich an deiner statt ebenfalls zu so was entschließen“, riet ihm Stübel. „Kurz und schmerzlos ... Wenn man leben will, kann man nicht lange wählen…“
„Das stimmt“, bestätigte Herr Kleinemann noch einmal. „Wenn man leben will, kann man nicht wählerisch sein ... Ich will es mir überlegen!“
Stübel, der noch gar nicht so verhungert aussah, denn auch er hatte seine heimlichen Beziehungen, die er nicht gern anderen verriet, prüfte erst eine Weile das Gesicht des Krämers. Er glaubte, dem konnte man etwas mehr sagen. Und er sagte vorsichtig und lächelnd: „Man weiß auch nicht, wofür es noch gut ist, daß man dabei ist. Die vielen Gerüchte deuten darauf, daß es bei dem radikalen Kurs nicht lange verbleiben wird ..., und es ist vielleicht nicht ausgeschlossen, daß sich eine vernünftigere Politik durchsetzt ...“
„Das wäre tatsächlich zu wünschen“, seufzte Herr Kleinemann und dachte in plötzlicher Wut wieder an die Gelder, die in der Kriegsanleihe steckten und wohl verloren waren.
Stübel beobachtete ihn.
„Ich rate dir“, verabschiedete er sich von ihm, „komm und überlege nicht zuviel ...!“
Herr Kleinemann blickte nach den Fenstern der Wernerschen Schenke. Er drehte um. „Der Stübel ist ein alter Gauner“, sagte er sich, „wenn einer seine Fahne nach dem Wind aushängt, dann ist er es ... Aber man sollte sich die vorgeschlagene Geschichte überlegen.“
Der Krämer begegnete den Bergleuten, die aus der Morgenschicht zurückkamen. Die rot entzündeten Augen tief in den Höhlen, Flüche und Dreck speiend, ausgelaugt und krumm von der Kohlenarbeit. Das war das Letzte, das ihm zugemutet werden konnte. „Das Weib ist oben nicht mehr ganz richtig ... Dann befolge ich schon lieber den Ratschlag des Gemüsefritzen! Was sich der junge Kerl in der Schenke denkt, das ist mir wurscht ... Der Mensch muß in jedem Wasser schwimmen können ...“ Sein Entschluß stand fest – er ging morgen nach der Wache.
Unterwegs stieß er auf den Bäcker Schwerlich, der sich – niemand konnte raten, mit welcher Fürsprache die ganzen vier Jahre daheim rumgedrückt hatte.
„Na, auch schon zu Hause?“ begrüßte ihn der noch gut gefutterte Bäcker.
„Was, auch schon ...“, entgegnete der Krämer, „ich denk’, es war Zeit. Nicht jeder hatte das Glück, einen guten Onkel irgendwo sitzen zu haben ...“, bemerkte er boshaft.
Schwerlich wollte nicht auf diese fühlbare Spitze eingehen. Er hatte ja nur das getan, was viele andere Schlauberger getan hatten. Ihm lag im Augenblick mehr daran, Kleinemanns Haltung zu den heutigen Geschehnissen zu erforschen. Er sagte: „Die Verhältnisse haben sich schwer geändert, man pendelt heut ein wenig in der Luft rum. Wie steht es mit Ihnen ...?“ Die hellen Augen in dem rosigen Gesicht verrieten Lauern ... „Wie finden Sie die neuen Verhältnisse? Ich wenigstens“, fuhr er fort, „ich bin buchstäblich bankrott. Und man weiß nicht, wie lange dieser Zustand noch andauern wird ...“
Das ist deine Strafe, dachte Herr Kleinemann zufrieden, du hast mit deiner Drückebergerei auch nichts retten können. Gott sei Dank! Er gab sich alle Mühe, seine Schadenfreude nicht zu verraten; er fühlte die rasende Neugier des Bäckers, der wissen wollte, wie er sich zu der Revolution stelle. Herr Kleinemann stellte sich überhaupt nicht, weder so noch so; man wußte ja noch gar nicht, wie die Dinge weiterliefen. „Das mit dem Bankrott stimmt“, antwortete er, „der hat manchen erschlagen, dieser Bankrott. Es ist tatsächlich eine Riesenpleite ...“
„Sehn Sie“, ging der Bäcker darauf ein, „eine Riesenpleite, ja, das können wir sagen. Nun sagen Sie, wie kommt man jetzt aus dieser Pleite heraus. In absehbarer Zeit doch wohl kaum. Und dann bei den heutigen Zuständen ...?“
„Bei diesen Zuständen schon gar nicht“, vergaß sich Herr Kleinemann jetzt ein wenig, denn ihm waren seine mit der Kriegsanleihe verlorenen Tausender wieder eingefallen. „Unter diesen Umständen kaum noch!“ wiederholte er in Wut.
„Sie sind also derselben Meinung“, sagte der Bäcker, mit der Antwort des aufgeregten Krämers zufrieden. „Und was sollen wir tun, um diese wahnsinnigen Verhältnisse wieder in eine normale Bahn zu lenken? Denn unter diesen Verhältnissen besteht kaum eine Hoffnung, daß sich unsereins je wieder aufkratzen kann. Dann besteht auch noch jeden Tag die Gefahr, daß einem der Rest aus dem Laden geräubert wird. Man muß doch endlich wieder an den eigenen Schutz denken.“
Herr Kleinemann wurde in seinem Vorsatz, den er nach seiner Unterredung mit dem Gemüsefritzen gefaßt hatte, wieder schwankend. Er wagte aber darüber vor dem Bäcker nicht zu reden. „Ich laß es lieber sein“, sagte er sich, „es könnte nur Mißverständnisse erregen.“ Doch anklopfen wollte er, wie sich Schwerlich dazu stellte. Er klopfte vorsichtig an: „Mancher, der vor derselben Pleite steht, hat ganz einfach einen billigeren Ausweg gesucht. Ich meine zum Beispiel den Stübel!“
Schwerlich lächelte ingrimmig: „Reden Sie nicht von dem, der weiß auch noch nicht, wo er eigentlich hingehört. Der Stübel hängt seine Fahne heut so und morgen so aus ...“
Herr Kleinemann lächelte. „Ja, er hängt sie aus, wie gerade der Wind geht ... Jajajaja ...!“
„Morgen, wenn diese rote Geschichte schiefgeht“, sagte der Bäcker, „hängt er sie wieder andersrum ...“
„Natürlich hängt er sie wieder andersrum ...“, bestätigte Herr Kleinemann und spuckte aus.
„Also“, verabschiedete sich Herr Schwerlich dankbar, „jeder anständige Mensch sieht gern wieder eine vernünftige Ordnung einkehren.“
„Jeder anständige Mensch!“ sagte Herr Kleinemann.
Jeder ging nach seiner Richtung. „Jeder anständige Mensch“, redete Herr Kleinemann für sich weiter, „sieht zu, daß er, gleich wie, aus diesem Bankrott wieder rauskommt.“ Sein Entschluß stand