Future History 2050. Thomas Harding

Future History 2050 - Thomas Harding


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langen zotteligen Haaren und einem breiten Grinsen auf meinem Gesicht.

      Anscheinend habe ich erst mit dreieinhalb sprechen gelernt. Meine Eltern behaupten, ich hätte dann aber umso mehr geredet. Ich bin immer neugierig gewesen, das werden alle bestätigen. Ich bin die Jüngste in der Familie, und eine andere frühe Erinnerung von mir ist die, dass meine Geschwister ständig sagten: „Hör auf mit deinen ewigen Fragen!“

      Über mittelalterliche Burgen weiß ich eine Menge. Ich habe alle Bücher gelesen, die ich dazu finden konnte. Ich kann erklären, was der Unterschied zwischen einer Motte (einem – oft künstlichen – Hügel mit Palisadenzaun), einer steinernen Burg (die natürlich aus Steinen gebaut ist) und einer konzentrischen Burg (mit einer Menge innerer Mauern und Höfe) ist. Ich weiß, was die Verteidiger gegen die Angreifer geschleudert haben (flüssiges Pech; muss echt weh getan haben) und was für Dinge die Angreifer benutzt haben (Sturmleitern, Rammböcke und Katapulte). Wusstest du zum Beispiel, dass eine „Zinne“ – wie die „Zinke“ einer Gabel – etwas mit Lücken dazwischen ist und auch etwas mit Zahn zu tun hat (vielleicht hatten die Leute früher mehr Zahnlücken)? Ich mag alles aus der Vergangenheit. Neben Burgen sind meine Lieblingsthemen: Dinosaurier, die Römer und die Han-Dynastie in China. Besonders interessiert mich, wie Menschen oder Völker jeweils große Macht erlangten und sie dann wieder verloren.

      Also ja, die Vergangenheit interessiert mich total. Mein Hobby ist, Geschichtsbücher zu lesen. Meine Eltern behaupten, dass ich, seit ich lesen kann, nie ohne meinen Library1500-Reader unterwegs war. Ja, ich habe das Ding geliebt! Ich musste meinen Speicherplatz immer mehr erweitern. Mit acht hatte ich fünf iShelves. Als ich zehn war, brauchte ich schon 15, und als ich dreizehn wurde 45. Auf ein iShelf passen 100 Bücher, also eine ganze Menge! Manche Leute löschen, was sie auf ihren iShelves haben, um Platz für neue Bücher zu haben. Doch ich habe alle behalten.

      Aber Bücher und alte Filme zu gucken reicht nicht. Besser ist es, Geschichte direkt von denen zu erfahren, die sie selbst erlebt haben. Und aus diesem Grund verbringe ich so viel Zeit wie möglich mit Großma Nancy, solange sie noch genug Kraft dazu hat, und wir plaudern über früher. Wir reden und reden stundenlang, ohne dass ich bemerke, wie die Zeit vergeht. Obgleich sie jetzt in ihrem elften Lebensjahrzehnt ist, ist ihr Gedächtnis noch ausgezeichnet.

      Ich hatte beschlossen, Großma Nancy richtig zu interviewen, und angefangen, Aufzeichnungen zu machen. Ich habe schon immer in meinem All-In-One Tagebuch geführt, um festzuhalten, was ich jeden Tag tue: was ich lese oder was Wichtiges am Tag passiert ist (falls etwas passiert ist). Aber das jetzt ist etwas anderes. Es geht um Geschichte, und ich möchte, dass die Aufzeichnungen stimmen und gesichert sind. Deshalb hatte ich unserer Handschreiblehrerin von meinem Projekt erzählt, und sie hatte mir freundlicherweise zwei Päckchen mit Heften aus Papier sowie drei Schreibstifte gegeben.

      Großma Nancy war sehr zufrieden, als ich ihr das mit den Papierheften erzählte.

      „Biografen haben schon immer auf handgeschriebene Briefe und maschinenschriftliche Dokumente zurückgegriffen“, sagte sie. „Ich weiß gar nicht, wie die Historiker demnächst etwas über die Menschen von heute herausfinden wollen, wo sich doch alles nur noch in den Social Media abspielt.“

      So macht Großma Nancy das immer: Sie greift irgendein kleines Thema auf und bläst es zu einer Lehre fürs Leben auf. Meistens ist mir das egal, aber manchmal nervt es mich, wie in diesem Fall. Und das habe ich ihr auch gesagt. Sie hat gelächelt, mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Du weißt doch, es heißt: ‚Du kannst einem alten Hund keine neuen Kunststücke mehr beibringen.‘ “ Und dann hat sie gesagt, ich solle nicht vergessen, mich bei der Lehrerin zu bedanken. Ich habe nur die Augen verdreht.

      Als wir uns dann zum ersten formellen Interview hinsetzten, sagte Großma Nancy auf einmal, dass sie eine Bedingung stellt. Nämlich dass ich alles Wort für Wort „protokolliere“. Als ich fragte, was sie mit „protokollieren“ meint, schlurfte sie zu einer großen Truhe, öffnete den Deckel, griff hinein und holte ein großes blaues quaderförmiges Ding heraus. Es war offenbar richtig schwer, denn als sie quer durch den Raum zurückschlurfte, mit dem Ding vor der Brust, bewegte sie sich ganz langsam. „Das ist für dich“, sagte sie und ließ das Ding in meine Arme fallen. Es war wirklich schwer!

      Beim genaueren Hinsehen entdeckte ich, dass der Quader ein riesiger abgewetzter marineblauer Schuber war –, mit einer kleinen Schublade –, der zwei dicke gedruckte Bücher aus der alten Zeit enthielt. Es war ein Lexikon aus Papier, und es war riesig!

      Während Großma es sich bequem machte, habe ich schnell in meinem All-In-One nachgeguckt. Offenbar ist das Lexikon 1928 zuerst in zwölf Bänden erschienen, nachdem man über 70 Jahre daran gearbeitet hatte. Es enthält nicht weniger als 414 800 Wörter. Das ist eine ziemliche Menge. Die Leute, die das Wörterbuch gemacht haben, müssen irgendwann eingesehen haben, dass es bei den meisten Menschen keinen Platz für zwölf Bände in ihren Wohnungen gibt, und so wurde es 1971 in zwei Bänden herausgegeben. Damit alle Wörter hineinpassten, mussten die einzelnen Einträge total geschrumpft werden.

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       Großma Nancys schweres Wörterbuch mit der Schublade für die Lupe im Schuber

      Nimm P bis Z, sagte Großma Nancy. Ich schlug „P“ auf, um „Protokoll“ zu finden. Die Buchstaben waren unglaublich klein. Ich habe gute Augen, aber das war einfach nicht lesbar. Großma reichte mir deshalb eine große Lupe, die in der kleinen Schublade oben im Schuber steckte, und ich suchte nach der richtigen Seite.

      Protegieren. Protestieren. Prothese. Protokoll.

      Im Lexikon steht, dass „Protokoll“ eine formgerechte, exakte Niederschrift bezeichnet. Das Wort kommt vom griechischen Wort protó-kolon, was „vorne angeklebt“ bedeutet und ursprünglich vorne an Buchrollen angeklebte Blätter bezeichnete, auf denen Angaben zur Entstehung des Buchs standen. Im 16. Jahrhundert stand das Wort für den Titel von Rechtsurkunden. Und schließlich bezeichnete es eben formgerechte und möglichst genaue Niederschriften, was ebenso eine gewissenhafte Wiedergabe eines Gesprächs wie auch ein Strafzettel sein kann. Wieder was gelernt.

      „Wenn es die Sprache ist, die uns von anderen Tieren unterscheidet“, sagte Großma Nancy, „dann ist dies Buch der Schlüssel zu unserer Spezies. Es ist deins.“

      Das ist noch etwas, was Großma Nancy tut: Sie schenkt mir alte Sachen. Und ich mag das. Mein Zimmer ist voll von echt coolem alten Kram. Ich habe eine Schreibmaschine, eine alte Arzttasche (mit einem echten Stethoskop und Operationsbesteck), einen Brieföffner und einen Abakus.

      „So“, sagte Großma Nancy, „versprichst du mir jetzt, dass du alles Wort für Wort protokollieren wirst? Auch wenn du langweilig oder nicht gut findest, was ich sage?“

      Ich versprach es.

      Großma Nancy blickte mich streng an, so, als ob ich das nicht ernst gemeint hätte.

      „Ich verspreche es“, sagte ich erneut und sah ihr in die Augen. Diesmal meinte ich es wirklich.

      Dann sagte Großma Nancy, dass sie mir, während wir die Jahre durchgingen, alle möglichen Dinge geben würde, die sie gesammelt hatte. Briefe, Bilder und andere Erinnerungsstücke. Das fand ich wirklich aufregend. Außer dass Geschichte auch etwas Persönliches ist, habe ich gelernt, dass eine verlässliche Geschichtsschreibung auch Beweisstücke und Anschauungsmaterial braucht.

      Als Nächstes fragte sie, über welche Periode der Geschichte ich gern etwas wüsste. Und als ich sagte: über die Zeit, die für mein Leben entscheidend war, schlug sie vor, dass wir fünfzehn Jahre, bevor ich geboren bin, anfangen und fünfzehn Jahre danach weitergehen würden, bis heute.

      Dies sind also Großma Nancys Erinnerungen an die vergangenen dreißig Jahre.

      2020

      Nimmt dein All-in-One jetzt auf?

      Okay, fangen wir mit 2020 an. Ein gutes Jahr, um zu beginnen.

      2020 habe ich aufgehört,


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