Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka

Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka


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Moment, der für unsere Namen gedacht war. Dann ein großer Schluck allein. „Also wir sind aus Frankfurt … am Main, meine ich … hahaha. Witzich, oder? Wir haben gewettet … ich mit meinen Freunden da drüben, dass ihr aussem Osten kommt.“

      „Und …“, hatte ich gefragt, „wie hast du gewettet?“

      „Das sag' ich ma' später … Das könnte ja beeinflussen … haha.“ Ein einsames Lachen. Ein blinzelndes Auge. Ein Spirellilöckchen, das davor hing, das er fortstrich. Er saß breitbeinig, die rechte Hand am Bier auf dem Tisch, der linke Ellenbogen auf dem Knie. Ein Auge, das fragend schaute. Das andere nach wie vor zugekniffen, was ein Schielen verhinderte oder ein Taumeln.

      „Osten oder Westen, das hängt vom Standpunkt der Betrachtung ab.“ Ich sah Dich angeekelt das Bier wegschieben. „Wir jedenfalls kommen aus der Deutschen Demokratischen Republik. Schon mal gehört? DDR? Ostdeutschland meinetwegen.“

      „Scheiße …“, rief der Typ, und meinte nicht unser etwaiges Schicksal. Sein Auge suchte den Tisch mit den Freunden. „Ich hab' auf meine Menschenkenntnis gesetzt … Auf euch hab' ich gesetzt!“ Er stemmte sich mit einem Armstütz hoch. Ein kräftiger Schluck half ihm über das Gelächter aus der hinteren Ecke des Gartens hinweg. „Jetzt muss ich eure Rechnung zahl'n.“

      Das kommt überhaupt nicht in Frage hattest Du gesagt, oder wolltest es. Ich rief: „Halt's Maul! Du Arschloch!“

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      SCHWERIN. Über die Kimme gelinst, das Auge nun auf fern gestellt, das Korn gesucht, dann noch ferner – alles in eine Linie gebracht, soweit die Goldkrone es noch zulässt. Eine Linie aus drei Punkten und ein Knack … Ein kleines Loch vorn links, unterhalb des Henkels … Zieht also links runter. Den Kolben in die Hüfte, den Hebel zurück und vor. Wieder angelegt, rechts oben, kurz unter den Mundrand, knack … Ein Loch in der Mitte. Jubel brandet auf: „Schützenschnur! Schützenschnur!“, johlt es durch dünne Barackenwände über den Appellplatz des zweckentfremdeten Kinderferienlagers, weht in den Mecklenburger Wald. Die Tassen werden aneinandergeschlagen, auf mich wird getrunken. Ein beliebiger Anlass, bis zum nächsten Loch, dem übernächsten … dem vollendeten Gießkannenmuster um das Loch in der Mitte herum. Wer schießt, darf nicht trinken, versteht sich von selbst. Erst wenn das Ziel vernichtet ist, so unser klassenkämpferischer Ansporn. Der Kommunistencognac ist unser Lohn … Loch um Loch in die gelbe Plastetasse, bis nichts mehr übrig ist, nur der Boden noch steht, flach und schwer zu treffen. Irgendwem schießt die Sangeslust ins Blut:

      „Spaniens Himmel breitet seine Sterne

      über unseren Schützengräben aus.

      Und der Morgen grüßt schon aus der Ferne,

      bald geht es zum neuen Kampf hinaus.“

      Eine simple Melodie, ein zackiger Rhythmus, ein schönes Marschlied. Gern gesungen, wie am Vormittag schon, auf dem Weg vom Schießstand zurück, verärgert wegen der verpassten Chance, wütend über die raureifbelegten Nachwuchskalaschnikows. Eine Scharte war auszuwetzen: Schießen, meine einzige militärische Verwendbarkeit – gegen eine Kindergartentasse. Noch ein Schuss im Magazin, das Moll eines verlorenen Krieges im Ohr, die Schunkelei um mich herum. Die dritte Goldkrone aus vollen Tassen. Ich fokussiere vor und zurück … Eigentlich sind es vier Punkte, denke ich und ziehe die Linie ganz schmal durch das wankende Kameradenspalier, von meinem Auge über Kimme und Korn, um nichts zu sehen von dem Trubel, eins zu werden mit dem Ziel: Darin liegt die Kunst des Schießens – einfach abknallen. Auch bewährt, sich die Tasse, die Scheibe, den Pappkameraden als seinen Schleifer vorzustellen. Nichts anderes verdient er. Er weiß es auch. Und er genießt es sichtlich. So wie er es genießt, wenn er vaterländischen Alarm spielen darf und im Frost antreten lässt, zum dritten Mal in einer Nacht. Einst ein Masochist, ein Prügelknabe und geil darauf. Ein Schinder nach dem Seitenwechsel, unser Antreiber im Morgengrauen. Ein frustrierter Verlierer mit Stoppuhr und lauter Fresse und ewigen Wiederholungen: „Antreten!“ „Im Laufschritt!“ „Auf die Stube!“ „Im Laufschritt!“ „Antreten!“ Ein Feldherr mit Zeitvorgaben, der seine Rochade plant, einen kühnen Gegenschlag von Siebzehnjährigen mit Holzgewehren vor der Brust und Arbeitsschuhen an den Füßen und Gasmasken im Gesicht. Ein Napoleon, der Befehlshaber einer Lehrlingskompanie, die im Eilmarsch die Morgennebel teilt, die durch Buchenwälder eine Flanke schlägt, die seine Zange vorwärts treibt während sie Minenfeld hört und in einer Reihe durch das Laub über Wurzeln stolpert, die auf halber Strecke beim Handgranatenweitzielwurf die feindliche Vorhut vernichtet, die über Kartenmaterial und Kompass gebeugt, den weiteren Weg in die taktische Stellung plant: Lagebesprechung … Das Ergebnis ist von vornherein egal. Es lenkt nur ab … Und wieder treibt er an. Er sieht die Erholung in den Reihen, sieht seinen Erfolg gefährdet, mithin den geilen Spaß. Und wieder die Lust, und wieder ein Schrei: „ABC-Alarm!“ Einer kotzt in die Maske.

      Der Schießstand ist in Sicht. Der Zeitplan ist eingehalten. Ein Strategenlächeln auf den Lippen: „Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Soldaten Pünktlichkeit!“ Wehrlos geschliffen steht die Kompanie vor dem Schießstandleiter. Er übergibt sie und geht in den dampfenden Rücken auf und ab. Er hört mit ihr die Einweisung: „Kleinkaliber, 4,7 Millimeter, KK genannt.“ Er hört auch das geraunte „Kinderkalaschnikow“. Er begrüßt die Zurechtweisung „Auf vierhundert Meter tödlich“, und schaut händereibend auf die Flintengarnitur. Aber niemand weiß, ob es bloß wegen der Kälte ist.

      Zehn Bahnen, zehn Pappfeinde. Erdwälle zu den Seiten und am Ende. Ein künstliches Tal im mecklenburgischen Urwald. Buchen ringsum. Wind pfeift durch blattlose Gerippe. Drei Zehnerreihen im dünnen Grün der GST. Ein farbiges Spiel privater Unterfütterung ragt aus Krägen, Ärmeln, Hosenbeinen. Die erste Reihe ist bewaffnet, ist feuerbereit, ist eine lustige Buschtruppe oder furchterregendes Paramilitär. Sie wirft sich auf die Matten, wirft sich dem Feind entgegen. Sie sieht ihn über Kimme und Korn, sieht ihn technisch. Er bleibt gesichtslos – ein schwarzer Fleck auf grauem Karton. Sie sieht den Feind wehrlos, er ist reglos, sie drückt den Abzug … Schulterstoß und Knall … Ein dumpfer Widerhall schlingert aus dem Tal, zerreißt im Wald. Flügelschlagen und Gekreisch in den Kronen … Eine unglaubwürdige Stille nach dem letzten Schuss. „Sichern“ ist befohlen. Ein Fernglas wird gereicht. Ich sehe ein kleines Loch, rechts über der Schulter. Der Schleifer ist verärgert. Er klatscht in die Hände, spornt mich an. Er weiß nicht, dass sein Leben hier zählt. „Entsichern! Feuer!“ Die Linie nach links unten, ich ziele dem Loch gegenüber, auf sechs Stunden früher, wie bei einer Uhr. Oder sechs Stunden später, was besser wäre: Ich verschenke gern diesen Teil meines Lebens, denke ich und drücke … und drücke … Vereinzelte Schüsse auf den Nebenbahnen. Drei, vier, ein vielfaches Echo. Mein Abzug ist wie festgestellt. Ich kontrolliere die Sicherung, ziele erneut und drücke wieder vergebens. Meine Hand geht hoch für die Meldung. Ein Ersatzgewehr, schneller als in jedem Krieg. Erklärende Worte, eine verlegen gestammelte Entschuldigung: „Ist eine Ladehemmung, Kamerad. Bei den Temperaturen verharzt das Öl.“ Wäre ja nicht mein Krieg, nur mein Leben, denke ich. Unerwidert bleibt auch das Kamerad. Es bleibt stehen, wie der Feind stehen bleibt, dass er vor Glück lachen könnte, wäre er nicht aus Pappe, festgeschraubt in fünfzig Metern. Eine Sandfontäne hinter ihm, eine andere Maschinenpistole. Eine Fontäne vor ihm, die nächste Maschinenpistole. Der Wechsel läuft wie geschmiert, eine Rotation auf allen Bahnen, die rückwärtigen Dienste im Akkord, ein vielstimmiges Geflüster aus Meldung und Befehl: Ladehemmung – Sichern – Gesichert – Entladen – Waffe laden – Entsichern – Feuer … Und über allem, der aus dem Hintergrund gegen die ablaufende Zeit brüllende Spieß.

      Endlich ein Schuss … Links, knapp unterhalb des schwarzen Flecks. Und wieder drücke ich gegen den Widerstand im Abzug. Ich reiße am Schlitten. Ich stoße den Kolben gegen den Boden, abwechselnd das Magazin. Ich will meinen Treffer in die Mitte. „Feuer einstellen“ hallt es über den Platz. Und das Schwarz, und was ich darauf gesehen habe, bleibt unverletzt, kein Treffer, keine tödliche Wunde, keine Ströme von Blut. Es lebt noch und brüllt wieder seine Wut heraus, erregt schon beim Gedanken ans Antretenlassen … Ein enttäuschtes Kind mit Macht und böser Phantasie schreitet die Reihe ab, schüttelt den Kopf und


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