Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka

Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka


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erscheint. Seine gespielte Geduld. Seine erschöpfte Abwehr … Die mir bald mitgebrachten Bildbände, die von seiner Dienststelle besorgten Reproduktionen, die wegen aggressiver Haltlosigkeit gegen das Stiefkind herbeigeschafften Kataloge, die mich potentiell interessierenden Drucke, die von ihm wie eine Bitte um Ruhe auf meinen Maltisch gelegten Museumspostkarten. Der Apparat, von dem ich lese, die eingeschalteten Dienststellen an Orten, die er nie sah, die Vielzahl örtlich Kundiger, die für eine glaubhafte Besorgung sorgten … Die wenigen Jahre seines Zerbrechens …

      Die Lust an der Qual oder die Unlust am weggeworfenen Leben. Das bereitwillige Opfer oder die Verschwendung an die Idee. Der Jähzorn nach wenigen Jahren, die trinkende Haltlosigkeit. Das Ersäufen der Lügen. Das Misslingen. Ein schreckliches Geheul, das nicht enden will. Wie ein Sack junger Katzen, der nicht untergeht. Selbstmitleid, klagender Tonfall, anklagender Vorwurf … Das gefährliche Kippen. Nicht zu sehen der Moment, nur der plötzlich geschehene Wechsel. Ihre Angst dagegen, mehr noch ihr Ekel. Die von ihr hingestellte Goldkrone. Die nächste Flasche für ein schnelles Koma.

      Meine Mutter hasste die Wahrheit.

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      Wieder im Atelier, wieder am leeren Tisch, wieder meine Hände darauf wie abgehackt. Wieder die Masse, der Block, das Nochnicht vor mir. Wieder die Angst vor Wiederholung, wie seit Tagen schon. Wieder werfe ich die Tür hinter mir zu und gehe ins Ex'n'Pop, ein letztes Mal, schwöre ich mir wieder.

      Wieder sitze ich allein auf der Klappsesselreihe an der Wand und schaue Anderen beim Kickern zu. Und wenn niemand mehr spielt, schaue ich auf das unbenutzte Gestänge und trinke wieder. Ich trinke gegen die Bindung an das, was ich versuche, das meinen Händen nicht mehr zur Form gerät, das Stückwerk bleibt, dass sie es auf dem Boden zerschmettern wollen, so unwillkürlich wie sie es früher einmal geschaffen haben. Unerträglich die Erinnerung daran, unvermeidlich der Blick vom Arbeitstisch dorthin, unverständlich das Gesehene, das von fern wie ein fremder Schatten dunkel zu mir herüberwinkt und höhnisch lacht: Das warst Du einmal … während meine Hände wieder darüber streichen, jede Kante widerzeichnen, über jede Furche fahren wie wieder angekommen, über jede Erhebung, die sie einmal ausgearbeitet haben. Jeden Tag wieder, sobald ich beginnen will. Immer der gleiche Ablauf im Atelier, im Museum meiner selbst: Ich begreife es nicht, aber sie erinnern sich.

      Jetzt krampfen sie wieder um das Glas. Sie führen es an den Mund, wenn wieder ein Tor fällt, später nur noch, wenn Seitenwechsel ist. Und irgendwann, wenn niemand mehr spielt, halten sie es gelöst. Und ich halte mich wieder aus.

      Die Lüftung drückt kalt und schwer von oben. Der Kicker ist verwaist, der Tresen schwach besetzt, dunkel bläst der Blues. Ted nimmt seinen Baseballschläger. Er haut auf den Tresen, verlangt mehr Durst und Trinkgeld, droht mit sofortigem Rauswurf. Dem Schreck der längst Sedierten folgt ihr einsichtiges Resteschlucken, folgen die geforderten Bestellungen, während ein einsames Paar über die Tanzfläche schwankt … Die Nacht ist vorübergetanzt. Sie hat mich um ihre Stunden betrogen, hat mich wieder mit meiner Verzweiflung allein gelassen. Mit jedem Türschlag winkt ein neuer Tag herein, mit ihm die alte Angst. Wortlos bestellte Gläser dehnen die Stunden, bis es sich zu einer beliebigen ergibt, dass ich gehe.

      Ein bürgerlicher Tag vor der Tür. Lärmende Autos, Busse, Transporter auf vier Spuren. Türkische Gemüsehändler halten dagegen. Lastwagen in zweiter Spur. Paletten kreuzen den Bürgersteig. Dönerverkauf auf beiden Seiten. Wo hatte Tarik noch gearbeitet? Bistrokellner räumen den Mittagstisch. Taxifahrer hupen sich die Straße frei. Sexshopleuchten im Vierundzwanzigstundenbetrieb. Ein Notarztwagen zerreißt den Lärm. Die Sonne brennt senkrecht, ohne Schatten auf fremdes Treiben. Der Tag hat mir die Straße unkenntlich gemacht.

      Ich gehe auffällig langsam zu dieser Stunde. Ich schwanke im Zickzack. Ich kreuze fremdes Terrain wie unter Beschuss. Mütter lenken ihre Kinderwagen beiseite. Stricherinnen erkennen die Vergeblichkeit. Ein Penner schöpft kurz Hoffnung und verzichtet brüderlich auf das Almosen.

      An einem dieser Tage habe ich mein Atelier verschlossen und den Schlüssel in die Gärten hinter dem Haus geworfen, soweit ich konnte. Danach hatte ich mich schlafen gelegt. Ich ruhte tief, des Nichts gewiss, dort irgendwo zwischen Rabatten, Schuppen, Zwergen. Ein rostender Schlüssel in liebevoll gehäuftem Mist, kleinere Träume nährend …

      Gerade einmal anderthalb Jahre ist das jetzt her.

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      UNGARN. Das Rot einer späten Sonne fiel durch verrußtes Glas in altes Steinbogenwerk, fiel vom Dachfirst geteilt auf die verrußten Seitenwände, die Imitate zweier Geschosse in einer unbestimmbaren Antike. Budapest – Keleti. Ein Kopfbahnhof wie ein altes Hallenbad, übergroß und langgezogen. Ein Bau in der mehrfachen Höhe der Wagen. Eile zwischen ihnen, ein Anrennen gegen die Verspätungen zum Kopfende hin, um die Lokomotiven herum, zu anderen Gleisen. Ein eigentümlicher Bechterew überall, von der Last schwerer Koffer zur Seite geneigt. Ein Schlängeln um jede im Weg stehende Ergebenheit, die Hinnahme nächster Verspätungen, durch piazzahaften Zeitvertreib hindurch, an Limonadenverkäufern vorbei, dubiosere Händler nicht beachtend, um manches Kartenspiel im Stehen herum und auf Koffern sitzende Alte, das Kinn auf Hand und Stock gestützt, an müde erregten Kindern vorbei, an kraftlos mahnenden Eltern, an umschlungenen Pärchen in ihrer eigenen stillen Welt, inmitten dieser dem Überlaufen nahen Wanne … Ein Fanfarenstoß über dem Getöse. Ein Zug rollte ein. Er schob sich zwischen die Menschenströme, vom Quietschen der Bremsen auf das Äußerste beschleunigt, wir waren gezwungen zu schweigen. Stumm schüttelten wir die kräftigen Hände der aufgereihten Freunde ab. Eminenzenhaft der Letzte. Deine Hand in seinen beiden. Ein versöhnliches Gesicht dazu – Angebot oder Bitte: Welche Schuld liegt denn bei mir? Er fasste in die Tasche seines uniformähnlichen Jacketts. Er steckte Dir einen Zettel zu. Es war die letzte Seite seines Blocks, herausgerissen und zusammengefaltet. Er verabschiedete sich, erfreut oder erleichtert. Ich sah das Gesicht eines erschöpften Geheimdienstoffiziers, die Freude eines in den Urlaub gehenden Brigadiers.

      Balatonfüred – Richtung Südwest. Unser Zug rollte einer untergehenden Sonne hinterher.

      Vom Bahnhof aus bei misstrauischen Passanten bis zum Zeltplatz durchgefragt, hatten wir nachts mit Taschenlampen im Mund unser Zelt aufgebaut, nah eines Baumes, und dank der Sterne den Himmelsrichtungen auf der Spur. Kurz und unruhig war meine erste Nacht. Ich erwachte schweißgebadet, die hellleuchtende Plane über mir. Das Zelt stand frei in der Sonne, den nachts angepeilten Vormittagsschatten weit verfehlt.

      Verdorrt, zertreten, totgelegen … blendend weiße Haut auf gelblichbraunen Resten von Gras. Meine Füße ragten aus dem Zelt, in einen kaum einsehbaren Tag. Die Hand vor der Stirn, unter der Sonne, über der unbekannten Welt. Ich blinzelte neugierig in den erlaubten Süden. Plötzlich hörte ich das dumpfe Klappern von Aluminium, das Rascheln einer gerafften Plane, eine belegte Stimme in beinah vertrauten Lauten. Ich erinnerte mich im Schnelldurchlauf an die Herfahrt, schmunzelte wieder über die Scherze der heimreisenden Genossen, und schüttelte den Kopf über unseren Versuch mit dem Lauf der Gestirne. Ich sah dem Abbau eines Zeltes zu, westlich unseres Baumes im verfehlten Schatten. Ich schlug auf Dein Bein, Du schrecktest hoch, schnell zogen wir die Heringe aus dem Boden und unser Zelt, so wie es stand, in den verlassenen Schatten.

      Unser erstes Frühstück auf einer Terrasse unter Bäumen, fünfzig Meter vom Balaton. Die Sonne stand hoch in einem wolkenlosen Blau. Das andere Ufer duckte sich unter einen weißen Flaum, der wie von einem Pinsel ausgestrichen herüberragte. Der gerade noch zu ahnen war über Tihany, über ihrer leuchtend weißen Abtei, unserem Ziel für den nächsten Tag. Es lag direkt vor uns, in einem Flirren oder einem Dunst, nicht bestimmbar in der Mittagssonne, von ihr gar hervorgerufen. Eine türkise Reflexion des Wassers womöglich, eine farbliche Überlagerung auf das Grün der Hänge, eine Unschärfe als Ergebnis, nicht fokussierbar, wie mit müden Augen gesehen. In einem dünnen Strich der Klarheit, knapp über dem Sand, schoben Frauen mit dunklerer Haut, das vermutet schwarze Haar unter Kopftüchern versteckt, Fahrräder den Strand entlang. Flechtkörbe standen auf den Trägern, hingen am Lenker. Dürre Kinder, halbnackt und dunkel wie sie, sprangen zwischen den Rädern herum. Die Frauen


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