Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka
Auf den Knien vorweggestoßene Koffer. Längst war der Zug wieder angerollt, Kolín entgegen, Brünn oder Bratislava. Die Lokomotive schickte ihren Fanfarenstoß der Ebene entgegen, flach und ausgewaschen, in ein agrarisches Land voraus …
Viele denkbare Wege zwischen Nord und Süd, alles verbindend, zwischen Ost und West, bis an die Grenze eines undenkbaren Weiter-weg. Das Ziel vor Augen, bekannt oder nicht, wie durch ein unbeirrbares Stundenglas vorausgesehen, über die dorrende Weite hinweg, über totes Gras und dürstende Äcker. Weg über Staub und Sand. Verrieselnd … Zugfahren erzwingt Gelassenheit, der Zeit ergeben und dem Gleis. Richtung, kein Einfluss darauf.
Ein verständigendes Nicken aus einem gedehnten Moment der Langeweile heraus, schon hatte einer der Ungarn das Abteil verlassen. Gefühlte Stunden später kam er zurück, die Hände mit Bierflaschen voll, weitere klemmten unter seinen Armen. Er klopfte mit dem Kopf seinen dösenden Freunden auf unserer Seite der Scheibe. Aufgeblasene Wangen, Prusten, ein lachender Fingerzeig, erst dann öffneten sie ihm die Tür. Ein Bier für jeden, wie aus einem Bauchladen gereicht. Der Ungar ging nochmals herum, öffnete mit seiner Flasche die anderen, der letzten drückte er den Kronkorken wieder auf, hebelte mit der so verschlossenen Flasche die eigene auf. In der Mitte stießen wir an. Wir tranken und lauschten dem beginnenden Gespräch in unverständlichen Lauten, während in flacher Langeweile eine Landschaft vorüberzog, in welcher die errichtete Staatsidee ihre Ödnis nirgends verbergen konnte. Plötzliche Stille. Alle Augen waren auf uns gerichtet. Der Ungar, der das Bier gebracht hatte, beugte sich vor, stieß wieder mit uns an und trank. Er fragte etwas, wie beauftragt sah er aus, sein Bier im Nachhinein wie umgewidmet, wie zu einer weiteren vertrauensbildenden Maßnahme. Er versuchte es wieder, mit anderen Worten, nicht gewohnt unverstanden zu sein, zeigte auf unsere Taschen, zeigte in Fahrtrichtung. Er hob zu seinem fragenden Gesicht die Schultern: „Magyarország? Hungary? Balaton? Budapest?“ Mit unserem Ja leuchteten seine Augen. Eine stille Freude stand in dem gegerbten Gesicht, ein kleiner Stolz vielleicht über unsere Wahl. (Fünfzig Prozent die Chance von dort aus gesehen, im Zug zwischen Prag und Bratislava. Die Wahrscheinlichkeit auf anderen Wegen war auch nicht geringer, damals im Allgemeinen.) Er schlug seinem Nachbarn aufs Knie, trank mit ihm und den Anderen. Er befeuerte die Ausgelassenheit sowie das Durcheinander der Stimmen mit verschmitzten Erklärungen, zu denen er seine Hand durch die Luft schnellen ließ, dabei zupackte wie beim Fliegenfangen. Ein Anderer hatte sich inzwischen aus der allgemeinen Heiterkeit gelöst, war aufgestanden und strich seinerseits mit der flachen Hand durch die Luft, langsam wie ein Dirigent vor dem ersten Ton, als wolle er sein Orchester zur Ouvertüre bitten. Aus der Brusttasche der eigentümlichen Mischung aus Arbeitsjacke und Jackett zog er einen Notizblock. Er räusperte sich energisch. Mit angelecktem Finger blätterte er schon beschriebene Seiten um, die Augen aufmerksam auf jedem Blatt, genüsslich auf jeder Notiz. Am ersten leeren Blatt angelangt, holte er umständlich einen Stift aus den Tiefen der anderen Brusttasche, der Rücken wie ein Buckel gebeugt, während er drohend mit dem Block in der Luft wedelte. Bisher hatte er kaum etwas gesagt, bei jedem Scherz aber still in sich hineingelacht. Er war mir auch seines weniger stark gegerbten Gesichts wegen aufgefallen, trotz des Alters, das er mit seinen Kollegen annähernd zu teilen schien. Vielleicht auch weil er zuvor so aufrecht saß, als ob er gelernt hatte, seine Haltung kontrollieren zu müssen, dass dies von Vorteil sei. Völlig gelöst aber, überhaupt nicht mehr steif, stand er jetzt, die Abteiltür im Rücken, und notierte mit dem Stift, den er mehrmals angehaucht hatte, mit dem gespielten Husten eines Lungenkranken, etwas in den Block, das er laut mitlas, die schielende Grimasse eines Deppen aufgesetzt, eine dicke Zunge silbenformend, träge und sperrig zwischen den Zähnen. Er sprach in so langsamen Worten, dass ein gespieltes Einschlafen folgen musste, ein leichtes Vornübersinken, von einem Schnarchen begleitet … Plötzlich ein erschrecktes Aufwachen. Wilde, orientierungslose Augen, ein verwirrtes Luftschnappen wie ein Verschlucken, ein Geräusch zwischen Hecheln und Grunzen. Zwei oder drei Darbietungen des ganzen Spiels folgten, wobei jedes erneute Aufwachen weniger erweckend schien, wobei er mit jedem vorherigen Schnarchen ein Stück weiter vornübergesunken war. Bis zur letzten Wiederholung, mit der er im rechten Winkel gebeugt dastand, mit hängenden Armen, endlich stumm, und sich anhörte wie ein glücklich schnarchendes Schwein. Das Lachen überschlug sich, als ihm letztlich in den sich provokant darbietenden Hintern getreten wurde. Eine Andeutung nur, begleitet aber von deutlichen Flüchen, die selbst wir als solche verstanden hatten. Der so Verhöhnte war dabei hochgeschreckt. Er fand mit ernster Miene in die korrekte Darstellung seiner Rolle zurück, bereit zu einem unerbittlichen Notat. Er blätterte vor und zurück, zeigte jedem eine freie Seite seines Blocks, darauf ein väterliches Nicken zu einer strengen Frage und der immer gleichen Aufforderung, der der Befragte eifrig Folge leistete: Eine unterwürfige Haltung vor der Antwort, eine kurze Äußerung in devotem Ton, ein Satz oder zwei, sachlich zwar, aber deutlich beeindruckt vorgebracht … Die gespielten Varianten waren mit Mühe eingefügt in den Versuch, sich ein bitteres Lachen zu verkneifen. Er schrieb alles mit, nahm sich Zeit für seine Notizen. Er fragte in ernstem Ton nach, unterbrach eine langwierige Antwort mit verneinendem Zeigefinger, stellte zur Bestätigung einem Anderen die Kontrollfrage. Schließlich folgte ein in Spiralen abgesenkter Punkt. Dann verstaute er den Block in seiner Jackentasche … Ein Schwein zu einer unerbittlichen Autorität gewandelt, mit spitzem Mund und hochgezogenen Augenbrauen. Bevor er sich setzte, um im Folgenden wieder aus dem Fenster zu schauen, mit wieder durchgedrücktem Rücken und einem herablassenden Gesicht, welches Unnahbarkeit ausdrücken sollte, das daneben auf seltsame Art entrückt schien – eine pastorale Ferne, hatte er sich auf die Brust geklopft, dorthin, wo er seine Notizen verwahrte, für wen auch immer gedacht. Stille.
Der Eindruck einer perfekt gespielten Rolle. Ein beredtes Schweigen der Kollegen, die zusammengesunken dasaßen, die schwer atmeten, die mit schwitzenden Händen über die Schenkel wischten oder über eine nasse Stirn, über großen Augen, ahnend oder wissend. Die an seinen Augen vorbei in der vorüberziehenden Fläche die Weite suchten. Und vielleicht war ich nicht der Einzige, der hinter ihrem stumpfen Glanz eine aufgebrochene Erinnerung verbarg:
SCHWERIN. Meine Mutter fürchtete die Wahrheit. In den Morgenstunden jeden Sonntag gingen wir nach St. Nikolai, die alten Pflaster der Puschkinstraße entlang, den Gottesdienst zu erfahren, ich hüpfend an ihrer Hand, sie den Demmlerplatz in weiter Ferne wissend, stumm an Markt und Dom vorbei …
Mit einem Eisen breche ich die verschlossene Schranktür aus dem Rahmen.
Meine Knie reichten nicht zur Hälfte an die Vorderbank. Den Pastor sah ich unter Verrenkungen und mit Glück zwischen nicht allzu breiten Schultern. Ich drehte meinen Kopf in den Widerhall seiner Worte. Die Geschichten klangen wie von Zauberkraft von allen Seiten, wie Märchen von der Kuppel herab. Was ich noch nicht verstand, sah ich Antwort suchend als kurzes Glück im Gesicht meiner Mutter. Und über die Worte hinaus, fest wie ein Beharren, stand es darin noch beim Singen der Lieder.
Ich liebte es, das Summen meiner kleinen Stimme unter den vielen zu hören. Was ich nicht singen konnte, baumelte ich mit den Beinen. Mit meinem Baumeln machte ich ihre Welt gut. Aufgemuntert sah ich sie, beinah fröhlich, meine Hand in ihre geschoben, in ein widersprüchliches Fühlen weicher, kalter Haut. Auf dem Heimweg sprang ich im Rhythmus der Gehwegplatten lustige Hüpfspiele vor ihr her. Dann, müde gehüpft, mit einem Lachen in ihren Armen, ganz nah, wusste ich nur, ich muss weiterlachen …
Zeilen, die ich nicht zu lesen wage. Briefe gleiten mir aus der Hand. Sie nickte zu meinen Albernheiten, ein stilles Anerkennen meiner Mühe. Sie sah, das Sonntagsessen kochend, meinen Spielen auf dem Küchenboden zu. Meine ungeschickte Hilfe beim Decken des Tisches, lenkte sie mit nachsichtigen Worten. Und sie erinnerte mich an meine Zauberkraft, jeden Sonntag: Du bist die leckerste Köchin der Welt. Ich zauberte ein Lächeln über die Härte in ihrem Gesicht. Ich liebte die Sonntage …
Ein Foto ist aus einem Umschlag gefallen. Ich beuge mich vor, wie vor einer Stunde, wie über die abgesenkte Urne, und sehe das alte Schwarz-Weiß, ein Abbild wie ein vergilbtes Ich. Ich suche Halt am Schrank. Auf dem Boden ein Kreis sich drehender Briefe. Ich fürchte zu stürzen. Meine Mutter kannte die Wahrheit.
Ihre Hand in meinem Haar. Das Streicheln, für das ich brav aufgegessen hatte, schnell satt von der kleinen Portion, für das versprochen gute Wetter jeden kommenden Montag – mein abergläubisches Hoffen für unseren wöchentlichen Weg. Ich malte es in meinen geheimen