Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka
erst fragend anschauten, dann wie auf Kommando in lautes Lachen fielen. Einer hieb dem Anderen auf die Schulter, dass dieser nach Luft ringend vornüber sank. Der Dritte hatte die Lehnen gegriffen, als müsste er sich noch im Sitzen festhalten. Und der Vierte rief immer wieder ein Wort, womit er das Gelächter weiter befeuerte. Bald klang es erschöpft, bloß noch wie ein Kichern oder Schnarren am Gaumen. Er schüttelte den Kopf, als ob er etwas nicht verstehen könne, während auch seine Freunde sich allmählich zu beruhigen schienen. Mittlerweile war er aufgestanden, hatte ein Pergament auf das Fensterbrett zwischen uns gelegt, von allem etwas darauf getan und uns mit einer auffordernden Handbewegung eingeladen. Dann nahm er einen Koffer von der Ablage, balancierte ihn unter gefährlichem Schwanken auf seinen Platz neben mir, durchwühlte den Inhalt, buddelte sich durch Wäsche, Bücher, Hefte. Meine neugierigen Augen versuchten vergeblich die Titel zu lesen. Auf einem Buch sah ich vier Bilder: einen Acker, viermal – gepflügt, gesät, in vollen Ähren, dann abgeerntet. Einen Mähdrescher auf dem Deckel eines anderen, eine Betriebsanleitung wie mir schien. Zwischen ihnen holte er eine Flasche hervor, ohne Etikett, mit einem Ploppverschluss, gelbschimmernd der Inhalt und vier Plastebecher, die auch zum Zähneputzen gedacht sein konnten. Zwei gab er uns und goss sie voll. Ein Geruch von Frucht und Alkohol breitete sich aus. Für sich und seine Freunde füllte er die beiden anderen. Wir stießen an. Sie sagten eggeschegge. Wir antworteten mit einem Prost. Ein fruchtiges Brennen in meiner Kehle. Ich rang nach Luft. Njet Wodka! lachten sie. Sie gossen nach und stießen wieder an, um sogleich auf ein Weiteres nachzuschenken … Schnell spürte ich den Zwetschgenschnaps. Bald wollte er mir die Zunge lösen, mich gesprächig machen in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich blieb stumm, bis auf den Trinkgruß, in ihrer oder unserer Sprache, den ich erwiderte, dankbar, etwas sagen zu können. Sie hatten begonnen schneller zu reden, sich gegenseitig zu unterbrechen, scheinbare Stichworte fielen, auf die stets ein Lachen folgte. Sie schienen gelöst oder befreit. Von Pflicht und Druck? Es war, als wenn nicht wir in den Urlaub führen, sondern sie. Der Ungar, der die Flasche aus dem Koffer geholt hatte, war wieder aufgestanden. Er ging die zwei Meter zwischen uns in kurzen, zackigen Schritten auf und ab. Er redete zwischen Tür und Fenster, warf die Arme hoch bei jedem Richtungswechsel, breitete sie aus und schlug mit der Faust nach unten, womit er seine Worte unterstrich, als stünde ein Tisch vor ihm oder ein Pult. Dann wieder streichelten seine Hände etwas Rundes zu Worten, die beinah zärtlich klangen. Er schnupperte verzückt mit geschlossenen Augen, führte seine Nase darüber hinweg, bis er die Augen aufriss und sich wie ein vom Glück bedachter Hungernder dieses imaginierte Rund in den Rachen schob, dabei mit den Zähnen schlug und Geräusche von sich gab wie ein wildes Tier beim Beutemachen, angefeuert von den Freunden. Wir schauten erschrocken zu, so plötzlich und unverständlich war uns dieser Spaß. Dann setzte er sich und fasste mich bei der Schulter. Sein Lachen schüttelte mich, es steckte an. Mir fiel sein Buch mit dem Mähdrescher ein und eine alte Schlagzeile der Aktuellen Kamera: Erntekapitäne auf großer Fahrt … Und je mehr ich lachte, desto mehr lachte er … desto stärker wurde das Rütteln an meiner Schulter. Und aus der Ferne wie ein neues, noch fremdes Motiv, in Schleifen der Wiederholung immer lauter, höre ich mir verständliche Worte, während das Lachen in immer weiterer Ferne ausklingt, kaum noch hörbar ist, erstirbt … Kein Traum dauert ewig, die meisten sind kurz, die schönen besonders: „Ihr Ticket bitte!“ Rütteln. „Hallo!“ Wieder Rütteln. „Fahrausweiskontrolle! Das Ticket bitte!“ Nur mit Widerwillen finde ich zurück, öffne die Augen und sehe benommen die Hand des Zugbegleiters an mir zerren. „Zeigen Sie mir Ihren Fahrausweis“, höre ich ihn sich wiederholen, mit lauter Stimme, in ansteigender Hysterie, ähnlich eines soeben scheiternden Pädagogen. Ich, das renitente Kind, lache still vor mich hin, die Arme über dem Bauch verschränkt, und sehe wie von fern das um Haltung ringende Gesicht. Er lässt mich los, steht aufrecht im Gang, er redet bereits von einer letztmaligen Aufforderung, dann von der allerletzten und der Bundespolizei, von zu tragenden Einsatzkosten und einem Beförderungsverbot, wenn ich nicht unverzüglich meinen Fahrausweis zeige oder wenigstens den Personalausweis. Ungarn, so heißt es, war die lustigste Baracke im Ostblock. War es deshalb unser Ziel gewesen? Hattest Du die Idee, dorthin zu reisen? Du? Ausgerechnet nach Ungarn? Wieso nicht, wirst Du sagen. Ja, ich gäbe Dir recht, auch wenn wir in jenem Sommer fuhren. Denn alles, was passieren sollte, war so unvorstellbar fern, ferner als heute, Jahrzehnte danach.
„Gut. Wenn Sie nicht anders wollen …“, sagt der Zugbegleiter schließlich, dreht sich weg und will gehen. Ich finde langsam in die Gegenwart zurück und sehe hinter ihm das Gesicht des Mannes, dessen Gepäck ich im Schlaf vernachlässigt hatte, seine von einem Grinsen zu Strichen gespannten Lippen, die gedunsenen Wangen zu den Ohren hin verblüffend straff, die Augen schmal wie Schlitze. Ein Gesichtsausdruck als schaute ich in eine Clownsmaske von grotesk überzeichneter Schadenfreude. Ich rufe dem Zugbegleiter hinterher, dass er mein Ticket sehen könne. Von meiner Stimme erschrocken, erinnere ich mich an das Ohropax. Der Zugbegleiter scheint über den Fortlauf seiner Arbeit erfreut. Der Andere hingegen, der aufgestauten Schadenfreude überführt oder um das erhoffte Spektakel betrogen, bläht seine Wangen auf und lässt die gestaute Luft mit dem Trotz eines pubertierenden Zöglings aus allerbestem Hause verpuffen. Gouvernantenhaft dagegen die folgende Drehung des Kopfes, mit der er sich abwendet, die sogleich den ganzen Körper erfasst und ihn mit dem Schwung maßloser Enttäuschung in den Sitz vor mir befördert.
Ich fummele das Ohropax aus den Ohren und suche in den Jackentaschen nach dem Ticket. Mir war, als hätte ich es dorthin gesteckt. Ich greife in meine Gesäßtaschen, wo es auch nicht ist, während der Zugbegleiter meiner Suche bereits in der Art zuschaut, als hätte er doch nur dieses Schauspiel erwartet. Zunehmend peinlicher nimmt sich meine Selbstabtastung aus. Noch einmal durchsuche ich meine Jacke, meine Erinnerung an den Ticketkauf bereits in Zweifel ziehend: Vielleicht war es bloß ein Traum gewesen … Bis mir endlich einfällt, es in die Reisetasche getan zu haben. Nun sehe ich auch den Zugbegleiter enttäuscht, dies neben seiner wiederholten und gleichzeitigen Erleichterung. Sogleich gleiten die Laserstrahlen seiner Apparatur über mein Ticket. Der Scan weist mich in der Tat als ordentlichen Fahrgast aus. Er reicht das Ticket zurück und wünscht mir in einem Ton als sei es bloße Vorschrift eine gute Weiterfahrt. Ohne mein eventuelles Dankeschön abzuwarten, wendet er sich dem nächsten Fahrgast zu, welcher vom Geschehen abgelenkt, längst sein Laptop hat unbeachtet vor sich hinflimmern lassen. Ich setze mich, forme aus meiner Jacke wieder das Kopfkissenbündel, knete das Ohropax und stecke es mir in die Ohren, dankbar für die Weltabgeschiedenheit von dieser Seite. Ruhe. Nur noch dumpf und wie aus der Ferne höre ich das Rascheln einer Zeitung vom Sitz vor mir, das hektische Fliegen ungelesener Blätter …
Die Kontrolle war wie in einem Traum abgelaufen, der Schlaf hatte mich nicht ganz verlassen, ihm wollte ich mich wieder anvertrauen. Ich schloss die Augen und war allein. Aber der Schlaf war nicht sehr tief. Und ob es Zufall war oder ob er auf ein sicheres Indiz gewartet hatte, mein eigenes Schnarchen störte nur einmal kurz meine Ruhe, flackern plötzlich Blitze durch meine Lider. Stroboskopartig zuckendes Licht reißt mich aus dem Schlaf. Erschrocken sehe ich die Sonne durch Baumwipfel hasten, teils streicht sie über ihnen hinweg, teils bricht sich in ihnen das Licht. Er hatte die Jalousie hochgeschoben. Ich schiebe sie wieder runter. Sofort greift seine Hand danach, tabakgelbe Finger mit schwarzen Nägeln im Gegendruck. Mein verdoppelter Unwille stoppt die Jalousie auf halber Höhe, bevor sie die Sonne wieder freigeben wird. Durch das Wachs in meinen Ohren höre ich die eigene Stimme verzerrt wie die eines Fremden: „Zum Lesen reicht das Licht.“ „Ich bin Filmemacher und will was von der Landschaft sehen“, sagt er laut genug für meine Ohropax. Oder für alle Reisenden in unserem Abteil. Im Augenwinkel, schräg über den Gang hinweg, bemerke ich eine weitere Unterbrechung der Bildschirmarbeit. Eine Hand, die von der Tastatur lässt, die irritiert oder in Selbstvergewisserung die Krawatte auf Bauchmitte schiebt und glattstreicht.
„Filmemacher … Warum erzählen Sie mir das?“
„Und Sie? Was machen Sie? Träumen?“
Nicht nur diese Frage, seine Erscheinung vor allem war es, die mich erkennen ließ, dass im Festhalten an einem falschen Selbstbildnis die Möglichkeit eines kuriosen, zuweilen tragischen Scheiterns liegt.
Die Freude über die Tage, die folgen sollten, hatte mich gefangen, dass sie enden würden,