Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka

Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka


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Die eine groß wie die Seite, das Haar in braunen Buntstiftwellen, die andere nicht zur Hälfte so klein. Einen Finger aber auf Höhe der anderen, hoch gegen die lustige Sonne gestreckt. Heftweise malte ich das gleiche Bild, immer auf der rechten Seite. Und links daneben, wie aus der Ferne gesehen, den hohen Turm St. Nikolai. Mein Kalender kannte nur zwei Wochentage …

      Im Sitzen, in ihrem Sessel, die vom Boden geklaubten Briefe in der Hand, das Foto obenauf, auf das ich in einem Streit aus Für und Wider starre, gefangen in der lächerlichen Frage, ob sich das Lesen für den Sohn gehört. Ich beginne die Umschläge nach Poststempeln zu sortieren, diese Handvoll, in wenigen Tagen verfasst. Das Ungeschick wieder gutgemacht, lege ich wie ein erwischtes Kind den Stapel fort. Das Foto halte ich fest in der Hand.

      Immer sehr früh, jedes Mal müde, vom Kitzeln meines Bauches wach und mürrisch heiter, sah ich den Tag vor meinem Fenster in noch dunklen Farben stehen. Kein Kuss, kein Guten-Morgen-Lied, das folgte. Ich wusste, was sie gleich sagen wird: Es ist Montag. Du musst dich beeilen …

      Der Absender, ein Name nur. Und ich frage mich, ob ich ihn schon gehört habe. Ich spreche ihn laut vor mich hin beim Blättern durch die Briefe. Ich höre jedem neuen Verklingen nach, der Melodie seiner Silben. Ich studiere die Züge und ertappe mich bei der unsinnigen Frage, ob das Gesicht auf dem Foto mir gefällt.

      Der scharfe Ton ihrer Ermahnungen, das Ziehen an meiner Hand, der Ernst ihrer Stimme, der Schmerz in meinem Arm. Striche eines Regens im Laternenlicht. Reste eines sinkenden Mondes. Aus meinen Malheftgedanken verstoßen, lief ich neben ihr, das Pflaster vor mir, jede einzelne Platte unvorhersehbar schnell unter mir. Keine Sonne an Montagen im Winter, und im Sommer keine, auf die ich zeigen wollte. Ein Pflasterstein … Auf jeden ersten folgt ein zweiter … Einen Fuß auf jeden, dann ein dritter … ohne Hüpfen über die vor mir liegende Reihe. Ich machte die Hand schlank vor einem vierten, weit vor dem Demmlerplatz. Ich war entwischt, um ihr mein Malheft zu zeigen. Ich lief zurück für den Beweis: Ich bin nicht schuld. Ich lief so schnell ich konnte, ihre schnelleren Schritte im Rücken. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, diese laute, fremd - klingende Stimme von hinten. Ich erschrak beim Packen meines Kragens. Ich ertrug ihr lautes Schimpfen und das Schütteln. Ihre Sorge sah ich im Halbdunkel nicht …

      Friedland steht hinter dem Namen. Eine ganze Adresse schreibt der Absender nicht. Ich lese Göttingen in wässrigem Blau. Das Datum des Stempels weist den letzten Brief aus als so alt wie mich.

      „Wir kommen wieder zu spät. Und wie immer ist es deine Schuld …“ Königsbreite, Adolf-Hitler-Platz, Blücher … Demmler … Die Namen im Wechsel der Geschichte kannte ich nicht. Das Wort Geschichte stand für eine spannende Erzählung. Geschichten waren Märchen. Die Bedeutung, wenn es eine gab, las ich ihren Lippen ab. „Du weißt doch, dass wir unnötigen Ärger bekommen.“ Eins, zwei, drei … mit den Füßen zählte ich die Platten ab … ich bin dabei, und vier, ich komm' mit dir. Eins, zwei, drei … Mit jedem Schritt verlor sich ein heiterer Malheftgedanke. Mein Träumen löste sich in Wirklichkeit auf. Angst erfand sie sich als Abenteuer. Und für mich in meinem Märchen, als kleine Rolle, den furchtlosen Helden darin …

      Mein Sehen sinkt in das Foto. Ich kannte die Wahrheit als Märchen, anders nicht:

      Sie drückte die Klinke, an die er kaum hätte langen können. Sie stemmte ihre Schulter gegen den Flügel, ihn fest an der Hand. Schwer fiel er zu, Holz auf Holz, ein Schlag wie von einem Tor, dumpf wie bei St. Nikolai. Ein kurzes Grollen in ihren Rücken, der Nachhall wehte voraus. Durch das Holz hörte er den lauten Hunger der Krähen und leise das Gurren einer Taube. Sie standen vor einem Kasten aus Glas. Er kannte das Wort, er meinte seine Mutter spreche in ein Aquarium, durch ein Loch für Luft, zu einem luftschnappenden Fisch, durch eine dicke Scheibe hindurch. Er konnte es sich nicht anders erklären. Ein stummes Ungeheuer aus großer Tiefe saß darin, in einem Panzer zwischen algengrün und schlammgrau, mit schillernden Schuppen auf Brust und Schultern. Der Kopf nickte gefährlich, gierige Augenschlitze über einem geleckten Maul … Er glaubte, das Ungeheuer würde seine Mutter verschlingen – die immer gleiche Furcht: Es ist nur Glas. Und die immer gleiche Wendung: Ein gefangener Fisch mit nassgeleckten Lippen und großer Gier in den Augen nimmt ein Telefon zur Hand. Ein Surren, das dem Anruf folgt. Sie treten durch die zweite Tür. Ein Schlag von Stahl, als sie zufällt. Unklar ist, ob er das Wort kannte. Mit Eisen verband er diesen Klang, hell und klar in ihren Rücken. Gar nicht dumpf, ohne Nachhall. Kurz und abgeschlossen, der Ton wie die Welt dahinter.

      St. Nikolai von der Größe. Eine Halle, wie er sie nur von dort kannte. Er sah Treppen hineingebogen, wie gedacht für einen Empfang bei Hofe, als stünde ein Königspaar auf der Empore. Gäste in fallenden Roben, bunte Uniformen und Pluderhosen stellte er sich vor. Kleider schleifen über schwere Teppiche, Fahnen zieren die Wände, dreieckige Hüte mit Fransenkante werden von wallenden Perücken gezogen, für die Aufwartung, die Verbeugungsgrätsche vor dem Paar. Eine Kapelle tuscht auf für jeden annoncierten Gast, für ein großes Beisammensein. Jede Ehrerbietung steigert die Freude auf ein großes Fest … Alles spielte sich ab vor dem Grau der Wände. Seine Füße traten auf quietschenden Boden, auf Eisenkanten in den Stufen. Die Halle war vom Echo der Schritte erfüllt, keine Musik klang wider. Er war seiner Mutter gefolgt, durch die Bilder seiner Phantasie. Und sie einem gestiefelten Fisch auf genagelten Sohlen. Zu dritt gingen sie die Treppe hinauf. Ungelenk nahm er die hohen Stufen, unsicher wie ein verkannter Prinz. Ein Flügel schwenkte auf. Ein langer Gang folgte. Geheimnisvolle Kammern zu beiden Seiten, mehr als er Finger zum Zählen hatte. Die Verliese der Ungeheuer, viel mehr als ein einziges Märchen berichten konnte: Der Schrecken wohnt in einem Schloss.

      Er kannte nur diesen Gang, durch den sie geführt wurden. Und nur diese Tür, durch die sie wieder traten. Vor diesen fetten Fisch dahinter, der ihn kannte. Vor seinen Schreibtisch, vor sein breites Maul über schillernden Schuppen. Kein gläserner Käfig zum Schutz, nur ein Fenster im Rücken. Ein furchterregender Scherenschnitt im Licht eines aufziehenden Tages. Ein schwarzes Monster, das seinen unterwürfigen Helfer erwartet, mit ihm die beschuldigte Mutter und das corpus delicti, als besonderen Leckerbissen, mich …

      Ich gebe ihm die Schuld, sein Foto auf dem Schoß. Friedland, die Adresse, die ich lese, bekräftigt mich … Wut gegen Trauer. Ich ziehe den Brief aus dem Umschlag, keine Pietät hält mich:

      Meine Liebe, gerne möchte ich schreiben, Meine große Liebe.

      Auch wenn es sich für mich so anfühlt (oft ist es erst der Verlust, der einen spüren läßt), Du weißt, durch das, was ich tat, daß es nicht so sein kann. Ich dagegen weiß, daß ich es bis dahin in dieser Konsequenz nicht wahrnahm.

      Ein junger Mensch denkt immer über die Freiheit nach. Von der Verantwortung meint er, sie sei das Gegenteil. Ich, plötzlich mit jenem Tag zwar nicht erwachsen geworden, aber auch nicht mehr jung (wenn man Jugend an ihrer Unbeschwertheit mißt), weiß mittlerweile, daß es nicht die Freiheit an sich ist, die so verschiedene Seiten hat, sondern, daß es die Entscheidungen sind, wenn sie ohne drängenden Einfluß getroffen werden können, die das Freisein bedeuten.

      Mein Plan war ein Geheimnis. Damit habe ich Dir gegenüber viel Schuld auf mich genommen. Du hast mir vertraut, der ausgesprochenen Hälfte der Worte. Sie waren alle ehrlich.

      Die andere Hälfte betraf meinen Plan, den ich gefaßt hatte, bevor ich Dich kennenlernte. In dieser Hälfte, die ich nicht aussprechen konnte, die ich für mich behielt, ohne eine Entscheidung zu treffen, außer der, stumm zu bleiben, liegt mein Versagen.

      Das ist das Gegenteil der Freiheit, die ich wollte. Das ist die Schuld, die ich nie wieder gutmachen kann. Ein Zurück gibt es nicht, das würde Schlimmeres bedeuten als den Verlust vieler Jahre meines Lebens.

      Die andere, weitaus größere Schuld aber betrifft unser Kind. Sie macht mich sprachlos und verzweifelt im Wissen um die Unumkehrbarkeit meiner Entscheidung.

      Mir bleibt nur die Hoffnung auf eine andere Zeit, in der ich ihm einmal begegnen kann. Die Hoffnung auf andere Jahrzehnte.

      In Liebe und größter Hochachtung und mit dem innigsten Wunsch, daß Euch Glück widerfährt, schließe ich diesen Brief.

      An ihrer Hand, an ihrer Seite,


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