Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka

Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka


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verwunschen wie er schien, hässlich und fett. Ein schwer atmender Fisch. Vielleicht sah er einen Frosch, gefangen in seinem Warten auf jeden neuen Montag. Oder ein Leben für die Angst des Jungen und den Kampf mit seiner Mutter. Möglich die Hoffnung auf den erlösenden Kuss, der immer ausblieb: „Haben Sie uns etwas zu berichten?“ In den Traum gesprochene Worte vor dem Erwachen. Der Schuppenpanzer hebt sich schwer auf das gehörte Nein. Er sah das Ungeheuer, wie durch ein Zauberwort befohlen, aus dem flüchtigen Rest eines letzten Traumbildes erwachen. Er sah die Arme langsam über den Tisch tentakeln, über die Schreibmaschine, über Stapel von Papier. Ein Suchen, schneller mit jedem klebrigen Griff. Ein schnelles Finden in der Willkür der zurechtgeschobenen Ordnung. Kein zerwühlter Traum wie eben noch. Kein weiches Kissen papierner Schäfchenwolken. Die Welt lag eingeklappt in Aktendeckeln. Eine Mappe für ein Schicksal. Ein ganzer Stapel für die nächsten Stunden auf Seite gelegt, für die nächsten Bilder vom großen Traum.

      „Habe ich wieder ein Nein gehört?“ Kein erhoffter Kuss für den Frosch. Kein erlösender Zauber durch die Mutter. Doch endlich wach und wie verwandelt mit einem mächtigen Schlag auf das blanke Holz, auf die freie Stelle für den kleinen Rest noch nicht beherrschter Welt, in voller Präsenz, im Hier angekommen … Das Wort Realität sagte dem Jungen nichts. Sein Alter denkt in Phantasie und einfachen Worten: Der Bösewicht ist wieder wütend, wie schlecht geschlafen, wie jedes Mal … Und wieder war er stolz auf den Mut seiner Mutter: „Nein. Auch wenn Sie uns die nächsten zwanzig Jahre herbestellen.“ blitzende Zähne ein zerkautes Wort hungrig mahlende Kiefer gestoßener Atem Raubtieraugen Beuteblick Verwandlung die Muskeln gespannt wie zum Sprung „Sie wollen uns also weismachen, dass der Kindsvater immer noch kontaktlos ist?!“ Fauchen Zischeln Brüllen kratzende Krallen über den Tisch geduckt eine gespaltene Zunge zuckende Schulterblätter der Kopf links rechts warten … Witterung weite Augen … Fressgier und ein Blinzeln nach der weitaus fetteren Beute. Sie drückte ihn fest an sich. „Der Junge kennt seinen Vater nicht.“ kraftlose Pranken blankes Holz ein feuchtes Quietschen schlaffer Atem Ein Raubtier, dessen Brust sich müde hebt: „Ach … das wüssten wir ja. Warum stellen Sie sich so dumm?“

      „Ich habe auch diese Woche nichts zu berichten. Ich weiß nichts, was Sie nicht auch wissen.“

      „Dann schaue ich doch mal, was wir wissen!“ Ein Riese hinter dem Schreibtisch. Er baut sich auf. Wie angegriffen. Er ragt ins Licht. Die Schultern breit wie das Fenster in seinem Rücken. Kräftige Pranken wühlten eine Akte hervor. Schon lag sie aufgeklappt auf der freien Mitte des Schreibtischs. Der Junge hörte das Donnern, von ihr fester an sich gedrückt. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn, als gelte es noch einen guten Eindruck zu machen. „Unehelich … Das wissen wir!“ Das Wort klang nach im Genuss einer langen Pause. Es stand unüberhörbar im Raum, solange der dicke Finger die Seiten überflog: „Na so was passiert eben, wenn man nicht aufpasst, im doppelten Sinne. Kennen Sie das Sprichwort: Drum prüfe, an wen der Beischlaf ewig bindet …? Vielleicht kennen Sie es in anderer Form. Und vielleicht ist das ihr Glück, sollten wir Ihnen zweifache Leichtsinnigkeit unterstellen. Ganz bestimmt aber sein Glück, wenn ich das hier richtig überblicke …“ Der Finger zeigte geradeaus über den Aktenrand. „Das sollte doch in keinem Fall unversucht bleiben! Wenn Sie nur endlich ehrlich sind! Wenn Sie uns endlich sagen, wann und wie Sie Kontakt hatten, respektive haben!“

      „Ich habe Ihnen nichts Neues zu sagen.“

      „Wieder nichts? Also was wissen wir noch? Nur um Ihnen Ihre Lage klar zu machen: Sie hatten eine intime Beziehung zu einem Geheimnisträger, dem späteren Kindsvater. Sie haben sich vierzehn Monate vor seinem Hochverrat kennengelernt. Hochverrat begangen mittels Republikflucht, in der Folge zu unterstellender Geheimnisverrat. Sie behaupten nach wie vor, davon keine Kenntnis gehabt zu haben. Sie behaupten weiter, dass es nach seinem Hochverrat keinerlei Kontaktaufnahme gegeben hat. Nicht von Ihrer Seite, nicht von seiner. Ausnahme: Seine sogenannten Abschiedsbriefe …“ Er brüllte: „Ja glauben Sie denn, wir hier sind blöd? Glauben Sie, eine solche Finte verfängt? Ein derart abgekartetes Spiel? Der kleinste Hinweis nur … Und glauben Sie mir mal das eine, wir haben noch immer alles gefunden. Und dann sind Sie weg, für den Rest ihres Lebens … Und der Bengel findet endlich ein ordentliches Elternhaus.“

      Atemlos von der Wut … vom Poltern … die vielen, lauten Worte vom Gerede über Mutter … Der Junge sah ein müdes Drohen gegen sich. Verschnaufen … ein tiefes Luftholen … ein lächelnder Riese plötzlich … In seinen Ohren brummte das Ungeheuer friedlich wie ein vollgefressener Bär: „Das Einzige, was Ihnen noch helfen kann, ist Ehrlichkeit. Wir erwarten endlich Ihre Kooperation.“ Ein Grinsen, so zuvorkommend wie dreckig.

      „Und ich erwarte, dass wir endlich in Ruhe gelassen werden. Ich bin müde, jede Woche hierher zu kommen. Als wenn Sie den persönlichen Beweis brauchen, dass wir noch hier sind. Sie wissen doch alles, was wir tun, bevor wir es angefangen haben. Wohin wir gehen. Wen wir treffen. Welche Briefe uns erreichen, vor allem aber, welche nicht. Wie lange wollen Sie Ihre Zeit noch verschwenden? Und was soll der Junge denken? Was ist, wenn er zehn wird? Wollen Sie uns dann immer noch herbestellen? Oder mit vierzehn, wenn er Jugendweihe feiert und einen Eid auf dieses Land schwören soll? Mit achtzehn, wenn er erwachsen ist? Ich frage mich wirklich, wie aus ihm ein ordentlicher Staatsbürger werden soll, wenn er den Staat Woche für Woche in derartigem Misstrauen erlebt, bei aller berechtigten Sorge um dessen Sicherheit. Haben Sie sich nur ein einziges Mal gefragt, wie er selbst, unter solchen Umständen, Vertrauen gewinnen kann?“

      „Das Schicksal des Einzelnen, über das ich nicht zu entscheiden habe.“

      „Das glaube ich sogar. Aber Sie sind es, der unsere Akte in den Händen hält. Sie tragen dort, jeden Montag, Ihre Einschätzung ein. Aber vielleicht liegt Ihnen ja an unseren Treffen?! Vielleicht sind wir hier, weil sie Gefallen an dieser Art Wochenauftakt gefunden haben. Was ich aber wirklich glaube, ist, dass wir Ihr letzter Strohhalm sind. Dieses Ritual, Woche für Woche, hat mich überzeugt, dass Sie überhaupt nichts wissen, keine Spur. Sie sind ratlos und fragen sich verzweifelt, wohin er abgetaucht ist. Zu wem. Mit was im Gepäck. Wenn es stimmt, was Sie behaupten, wenn er wirklich einer von Ihnen war, dann weiß er doch, wie es geht. Vor allem weiß er, wie es nicht geht. Wer hat ihn denn ausgebildet, im Glauben, dass er kein Dummkopf ist?“

      Die Pranken in der Akte, ein ratsuchendes Blättern, der verbrauchte Druck verbrauchter Varianten – ein leergeschleckter Honigtopf. Die Lust am Nektar und die Frage, wie an ihn noch zu kommen sei. Stummer Hunger … gierige Gedanken … Aus dem Maul tropfte es speichelnass: Ein neuer Plan. … Gestraffte Schultern … die Brust hebt sich … der Wanst spannt jeden Silberknopf … er sagt – und der Junge schaute in ein teigiges Lächeln: „Gut. Nach so langer Zeit haben Sie uns möglicherweise überzeugt.“

      Meine Mutter kannte nur diese Hälfte der Wahrheit …

      „Toffeln vom Fritz“, hatte ich geschrien und zog fest an ihrer Hand. Ich zog ohne Wirkung, einzig meine Füße rutschten zu ihr hin. Sie kniete sich herunter, lachte laut und nahm mich in den Arm, bevor ich fiel. „Aber das heißt doch Pommes Frites.“

      Es hatte geschneit. Ein rutschiger Flaum lag auf den Platten. In weißen Spitzen gipfelte das Grünspandach, Adventstupfer auf St. Nikolai. Die Welt hatte sich geschmückt während der Andacht. Unsere Lieder hatten ihr gefallen, wie ich dachte, so wie die sanften Worte des Pfarrers. Sie lag in einem Wolkenkleid.

      „Du hast gefragt, was ich essen möchte.“ Füßestampfend mein Beharren.

      „Ich lache doch nur, weil du recht hast. Bei Uhle gibt es Toffeln vom Alten Fritz. Und ich trinke ein Glas Sekt.“

      Ein Knirschen im Schnee von St. Nikolai her. Ein Gesicht über ihrer Schulter. Ein dunkles Oval unter den Ecken eines Hutes, das Himmelgrau dahinter. Eine aufgescheuchte Krähe, ein Krächzen quergezogen. Ein Zupfen an meinem Ohr und ein Blinzeln: „Morgen ist Montag. Aber wir bleiben morgen früh zu Hause.“

      Das Grau über ihr, der Schnee im Himmel, der Fleck vor der Wolkendecke: „Ein schöner Adventsgottesdienst.“ Eine Stimme wie ein H-Moll wischte über den Nachklang der fröhlichen Messe. „Finden Sie nicht?“

      Meine Pudelmütze geradegeschoben, meinen Pony unter den Rand


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