Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka

Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka


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      … die Tage modern dahin. Ruhe, Stillstand, Zeit. Morgen für Morgen gleich und jeder Abend dem Morgen. Wochen vergehen. Mir liegt an nichts und nichts geschieht. Wenn ich müde bin, schlafe ich. Wenn ich Hunger habe, esse ich. Wenn ich mich unterhalten will, rede ich mit mir. Ich lese, wenn mir das nicht reicht, und wenn ich etwas sehen will, gehe ich spazieren. Das Atelier – ein toter Raum am Ende des Flures.

      Stell Dir vor, es ging mir gut.

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      UNGARNs Farben waren es, die unbekannten, nach denen ich mich vor Beginn schon sehnte …

      Verschwitzt erreichten wir den Aussichtsturm, ein hölzernes Gebilde wie von einer Feuerwacht, verwittert und bemoost, enge, steile Leitern im Innern. Oben blies ein heftiger Wind durch unsere feuchten Sachen. Kurz ließ er mich fürchten, bis ich die Abendsonne sah, seine Frische nicht mehr wahrnahm, fasziniert wie ich war von dem reifen Gelb, seinen Spiegelungen in den Giebelblechen, einem vereinzelten Blinken der Häuser, die sich bergab, dem See entgegen zu einer Siedlung verdichteten. Oder von ihrer Reflexion auf der anderen Seite, von der kleinen Landwirtschaft her, die am Fuß eines Weinbergbogens das Zentrum eines grünen Amphitheaters war. Zum See hin offen, der Hof im Abendlicht, ringsum dramatisch wachsende Schatten.

      Nicht mehr türkis, ostseegrau war das Wasser jetzt. Und gegen die Sonne geschaut, Richtung Westen, aus einer graugrünen Melange heraus, wechselte der See gegen unser Ufer in ein sich kräftigendes Blau. Der Blick war frei nach allen Seiten, fünfzig Kilometer oder mehr. Jetzt, in Erinnerung der Mittagssonne, verstand ich Ferne: das Zusammenspiel von ausgedünnten Farben – ein Kontrastverlust, mit einem Verschwimmen der Konturen … Die sinkende Sonne … ein Feuerrot … Glutrot … Blutrot, in das Blau der Nacht ausgestrichen.

      Ich schaute, während Du von unten zur Eile mahntest und bald laut heraufgerufen hast. Ich hätte die Nacht auf dem Turm verbracht, einen Mond erhoffend.

      Der Abstieg auf Trampelpfaden, hart und ausgetreten, begonnen im letzten Rot, der schwindende Tag unser Begleiter durch verdorrtes Geäst. Jesuslatschen, das gefährlichste Schuhwerk für Wanderungen solcher Art. Tastend am Gestrüpp, wie blind über Wurzelstufen, auf ausgetretenen Terrassen den Berg hinab. Dein Fluchen war mein Wegweiser voraus. Dein Ziel ein spärlicher Schein in der Nacht. Eine Biegung führte weg, die nächste wieder hin. Steil bergab, kein Halt in den Riemen, die Zehen krallten vor der Sohle in den Boden. „Bist du taub oder hast du mich nicht hören wollen?“ Der Schein war bald heller. Laternen hinter dem letzten Dickicht, einseitig der Dorfstraße, alle zwanzig Meter an schiefen Holzpfählen verschraubt. Durchhängende Kabel, ein sandiges Plateau zuvor, dann der abschüssige Asphalt. „Keine Antwort kann auch eine Antwort sein.“ Der Teer im Streit mit den Laternen, ein lichtschluckendes Band, träge funkelndes Gestein im Asphalt. Hunde bellten durch Lattenholz, schürften sich die Schnauzen, andere verbissen sich in Maschendraht. Ein Mofa kreischte von hinten vorbei, verschwand und tauchte auf, kleiner und leiser in jedem Lichtkegel. Noch ein Gasstoß, eine abschüssige Kurve, das schrille Sägen verklang. Eisiges Neon blendete hinter der Kurve, überblendete kalt die Lichterketten eines Gartenlokals, die Lampions über den Tischen. Am Eingang mühte sich ein halber Quadratmeter Colarot um Gastlichkeit. Stimmengewirr, angeregt und lauter mit jedem Schritt, ein hörbarer Wegweiser, übertönt vom Quietschen des Tores, nicht laut, aber deutlich in anderer Lage. Ein verkündender Ton. Der alte Ober vor leeren Tischen, grußlos gegen die neuen Gäste, das Tablett unter dem Arm, Eile in kurzen, schnellen Schritten. Ein abrupter Stopp, ein schneller Schritt rückwärts, eine sichtbare Entrüstung am letzten Tisch vor dem Haus. Eine ruckartige Bewegung des Oberkörpers, eine Welle, die daraus folgte, die über Schulter und Arm in die Serviette lief, die ein ungehöriges Laubblatt von seinem Tisch fegte … Das sorgsame Glattstreichen der Decke. Die Wiederaufnahme des tantenhaften Trippelschritts. Die Straffung des Rückens im Lauf, als ein halbes Dutzend Biergläser zusammenstieß, als ihn das laute Prost seiner letzten Gäste erreichte. Die folgende Beschleunigung der Schritte, die doppelt genommenen Stufen, sein Schwungholen mit dem Oberkörper, bei jedem Schritt ähnlich einem pickenden Huhn … unser Lachen hatte etwas Versöhnendes.

      Der Ober war in der Tür unter dem Neon verschwunden. Sein freier Arm hatte in weiten Bögen Luft geschaufelt, das Tablett hatte er fest unter den anderen geklemmt, wie ein Militär die Mütze beim Rapport vor einer alten, ehrgebietenden Majestät: Schnell an der Kasse gekurbelt, klingend springende Lade, fröhlicher Ton seit k.u.k. Der Digitalrechner zwischen bierklebrigen Fingern, die Summe der vielen Runden, der tagesaktuelle Faktor, das Produkt ist eine utopische Zahl. Eigenes Geld in die Kasse gezählt, das Bier fröhlich aufgefüllt, beschwingt von der lohnenden Arbeit. Das Haus dankt vielmals und schmeißt die letzte Runde …

      Er war in der Tür stehengeblieben. Er war erstaunt. Er erwartete uns nicht mehr, oder wir waren bereits vergessen. Er trug schwer an seinem Tablett, beidhändig über der Schulter. Ein Säulenheiliger für drei Terrassenmeter. Ein Beladener mit tastenden Fußspitzen auf der Treppe, der alte Rücken gebeugt, steif bis zur letzten Stufe. Ebenerdig wieder ganz der Herr Ober, der Hausherr mit zurückgeworfenem Kopf, seine Gäste abschätzend im Vorübergehen: Schuhe, Hose, T-Shirt, Schnauzflaum … Das Knirschen des Kieses unter seinen Schuhen vermischte sich mit der Frage: „DDR?“ „Nein Deutschland.“ Ein zackiges Nicken zur Begrüßung, Herr alter Schule. Er nickte noch einmal für den freigemachten Weg. Und er nickte dankbar am letzten Tisch, den großzügigen Gästen zu jedem servierten Bier: „Bietscheen … Bietscheen … Bietscheen …“

      „Wie kannst du das sagen?“

      „Hab ich gelogen?“

      „Der will doch Westmark haben.“

      „Aber Forint wird auf der Rechnung stehen.“

      „Das wird peinlich.“

      „Schämst du dich etwa für dein Geld und alles andere?“

      „Ich will mich nicht für dich schämen.“

      Ich war schon dem Winken des Obers gefolgt, seiner Geste des zurückgezogenen Stuhls: Voilà … Ein übertriebener Handschwung hatte den Tisch präsentiert, ein weiterer das Reserviert verschwinden lassen, ein Zupfen die verrutschte Manschette im Ärmel der Kellnerjacke zurechtgeschoben. Er trug das Schild weg, mit ausgestrecktem Arm, schnelle Trippelschritte an leeren Tischen vorbei, sichtbar war die Freude über den sich so spät noch abzeichnenden Erfolg. Er kam mit den Karten wieder. Er tippte mit einem Diener auf seine Empfehlung. Die Bekräftigungen, die sich anbiedernden Versuche in Deutsch, die geküssten Fingerspitzen sagten mir, dass sonst nichts mehr zu haben sei: „Zweimal Gulasch bitte und zwei große Bier!“

      Nun wieder wie unter einer Last gebeugt rannte er Richtung Restaurant davon. Er rannte mit den Karten unterm Arm, wie jemand, der in sein Büro eilt, der mit seiner untergeklemmten Aktentasche der immer gleichen Verspätung hinterherläuft, die ihm täglich widerfährt … Wie ein ausgedienter Schreibstubenbeamter dachte ich und hörte ihn von der Treppe schon die Bestellung in die Küche rufen.

      „Hast du die Veränderung gesehen“, staunte ich.

      „Hast du die Preise gesehen?“

      „Rechne doch mal um!“

      „Habe ich. Aber wir sind zwei Wochen hier und dürfen nichts mehr umtauschen.“

      „Egal. Ich habe Hunger“, sagte ich ungeduldig, von meiner Lautstärke selbst überrascht.

      „Bietscheen.“ Der Alte warf zwei Filze zwischen uns und stellte das Bier darauf. Am anderen Tisch war es seltsam still geworden. Zu mir gebeugt entgegnetest Du leise: „Geben wir heute die Hälfte aus und morgen vielleicht die andere, dann sind es bloß noch zwölf Tage …“

      „Ich habe Westgeld dabei. Prost.“

      Ich hatte mein Glas gehoben und allein getrunken. Du warst in die Lehne zurückgefallen. Du schautest Deinen Händen zu, ihrem unwillkürlichen Kneten, wie die Daumen nervös in den Handflächen rieben, wie sie abwechselnd die Knöchel zählten.

      „Du hast was?“

      „…


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