Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka
tut doch nichts zur Sache. Geht dich auch nichts an.“
„Hast du die etwa von deinem Vater?“
„Von meinem Vater? Den hab' ich seit Jahren nicht gesehen.
Und es ist auch egal. Hat doch jeder was.“
„Das ist nicht egal!“
„Warum ist es nicht egal? Warum willst du wissen, woher ich das Geld habe?“
„Weil das ein Devisenvergehen ist.“
„Ein Devisenvergehen …“, wiederholte ich mit lautem Lachen. „Da kann ich dich beruhigen. Mein Vater sieht in jeder nicht abgelieferten Westmark kein Devisenvergehen, für ihn ist das ganz klar ein Fall von Landesverrat.“ Mir unterlief eine wegwerfende Geste.
„Ich meine deinen richtigen Vater.“
Sprachlos sah ich diesen kurzen Triumph eines Wissens. Eine Sekunde nur, aber ich habe ihn bis heute nicht vergessen. Diese Häme, wie sie der Jugend leicht widerfährt, offensichtlich noch im kleinsten Mienenspiel. (Deine kleine, verräterische Rache für das Warten vor dem Turm?) Angriffslust, sichtbar in einem Flackern schmaler Augen. Und ein Grinsen, das nur zu ahnen ist, hinter dem starren Ausdruck der Überheblichkeit. Aber keine Spur mehr davon, wenn sie das Unbedarfte ihrer Äußerung bemerkt, wenn sie selbst feststellt, einen dummen Fehler gemacht zu haben. Röte im Gesicht, ein verschämtes Ausweichen, das bald in sichtbares Nachdenken wechselt. Eine angespannte Suche, Gedanken, die zu keiner glaubhaften Erklärung führen wollen … Du hattest zu dem anderen Tisch hinübergeschaut, als wäre sie dort zu finden gewesen. Oder war es aus der Befürchtung heraus, man beobachte uns? Und von diesem Tisch, als könne Hilfe von dort herbeitreten, nach dem Gartentor hin, das allerdings still im Rahmen lehnte. Vielleicht entsprang Dein Ausweichen auch dem Wunsch, das Gesagte unausgesprochen zu machen, die Zeit bis zu unserem Eintritt in diesen Garten zurückzudrehen? Du schautest Dich nach dem Ober um, wie aus eingeübter Vorsicht. Bestimmt nicht, weil Du hungrig warst. Vielleicht weil Du mit dem Essen die so dringende Ablenkung erwartet hast? Oder um dieser Eingebung zu folgen, selbst dem Ober eine Bestellung zu geben, welcher aber nicht zu sehen war? Vergeblich. Schließlich hattest Du vertraulich nach meiner Hand gefasst: „Wenn die uns erwischt hätten?“ Ich zog sie vor Deiner Berührung weg. „Was weißt du über meinen richtigen Vater?“
„Gar nichts …“, sagtest Du. „Abgehauen ist er“, folgte einem Moment des Überlegens.
„Abgehauen …?“
„Von deiner Mutter … meine ich.“ Du hattest gestottert, brauchtest Pausen, die ich an Dir nicht kannte. „Verraten hat er sie … Oder sie hat ihn verlassen …? Was weiß ich?“
„Woher weißt du das?“
„Der ist doch nicht mehr da.“
„Wo ist der denn?“
„Was weiß ich. Ich meine nur, der hat euch im Stich gelassen.“
Du schienst Deine Sicherheit zurückzugewinnen, als ich nichts darauf sagte, wie wieder zu Dir gefunden mit der Stille zwischen uns. Beruhigend war bestimmt auch die wieder aufgekommene Biergartenakustik. Die hörbar sich selbst genügenden Gespräche. Das laute Gelächter, das vom letzten Tisch herüberwehte. Aber ich fragte Dich noch einmal, was Du über meinen richtigen Vater wusstest.
„Wirklich gar nichts …“, beharrtest Du. Deine Erklärung aber war schwach: „Du hast einmal von dem Mann deiner Mutter gesprochen und nicht von deinem Vater.“
„Ich habe niemals von einem richtigen oder falschen Vater gesprochen. Ich habe auch nie das Wort Stiefvater benutzt.“
„Aber das ist doch das Gleiche.“
Das Wortspiel mit Dasselbe aber ist es nicht, hatte ich mir geschenkt. Mein Zweifel, wie ich heute weiß, blieb zu Recht, der zwingende Schluss aber, dem ich noch auswich, weil ich ihn nicht zu Ende denken wollte, weil er unüberwindlich zwischen uns gestanden hätte, über diese zwei Wochen hinaus, war es nicht.
„Du bist mein Freund …“, unterbrachst Du meine Gedanken. „Wir verreisen zusammen. Und ich wäre genauso dran gewesen. Ich musste das fragen.“
„Ein Devisenvergehen von vielen. Schau dich doch mal um!“
„Aber wir sind nicht zuhause. Wir sind an zwei Grenzen kontrolliert worden.“
Ich schlug mir auf die Brust, auf den Beutel unter meinem Hemd. „Dieses Geld nimmt man überall.“
Der Ober knallte die Teller auf den Tisch. „Viel Appetit“, sagte er und wies auf seinen Feierabend hin: „Halbe Stunde, dann Schluss. Bier schnell noch?“ Ich zeigte ihm ein V aus zwei gestreckten Fingern. Er schlurfte davon, den Tag in den Füßen.
„Du hättest mir das sagen müssen.“
„Damit du dagegen bist?“
„Weil ich dein Freund bin.“
„Deswegen habe ich es dir nicht gesagt.“
„Wie freundlich von dir, geradezu nobel … Aber ich wäre genauso dran gewesen. Verstehst du das nicht?“
„Jetzt lass mal locker!“
„Locker lassen?“, hattest Du Dich vorgebeugt und gesagt: „Mein Vater hat mich schon vor deiner Renitenz gewarnt.“
Letztendlich war es dieser Satz, nicht die Erwähnung meines Vaters, die sich damit stellende Frage, die von da an unausweichlich zwischen uns stand. Der Verdacht, der von nun an fortwährend in mir arbeitete, noch verstärkt in Deiner Gegenwart, ganz unbeabsichtigt, der umso mehr bohrte, sich immer wieder von selbst in Erinnerung brachte, der immer wieder überraschte, nie gewollt war, ein nicht zu unterdrückender Zweifel … Die Frage, die ich mir selbst hätte beantworten können, mit Vertrauen nur, ganz schlicht, wie ich heute weiß: Wie kommt er dazu? lautete ihr erster Teil. Dein Vater kannte mich nicht, hatte nie mit mir gesprochen. Nur einmal war er mir begegnet, allein auf den Fluren. Der Herr Direktor, der mich bloß meiner Verspätung wegen registriert hatte, mit einem erzieherischen Blick zur Uhr: Fünf Minuten vor der Zeit ist des Lehrlings Pünktlichkeit … Fünf Minuten, die mich verdächtig gemacht haben sollen? Ein zweites und letztes Mal bei meiner Verhaftung aus dem Unterricht heraus. Leicht zu beantworten ist dieser Teil der Frage, zwingend der Verdacht: Seine Warnung vor mir und Dein Wissen um meinen Vater. Die Position Deines Vaters sprach mehr für eine Zusammenarbeit als dagegen. Wie aber lautete die Antwort auf ihren zweiten Teil? Das Denken kreist um die schlimmste Annahme, immer wieder, bald andauernd, alles wird zum Indiz, bis jeder bewahrte Zweifel abgetragen ist: Warum eigentlich wurdest Du nicht verhaftet?! Was hast Du ausgesagt? Was ist mit Dir geschehen? Oder berichtest Du selbst, aus freien Stücken sogar?
Wir aßen wortlos, vom Ober, der die anderen Tische abdeckte, mehrfach umrundet: „Schmecken gut?“ Eine Böe staubte durch den Garten. Das Tischtuch wehte über die Kante. Es winkte, als ob es mitgenommen werden wollte. Ich schob den Teller fort. Der Ober dachte, es schmecke nicht. Er zog die Schultern hoch, es war ihm egal.
„Hey … ihr da …!“ Am hinteren Tisch stemmte sich jemand in die Höhe und legte sich unsicher tastenden Fußes den Weg zurecht. „Hey … Wo seid ihr her?“ Ich trank mein Bier aus und winkte dem Ober mit dem leeren Glas. „Wir haben nämlich 'ne Wette am Laufen“, lallte er, schwenkte vom Weg ein und nahm sich einäugig unseren Tisch zum Ziel. Eine notwendige Stütze, die es schnellstens zu erreichen galt. Er stürzte voran in kurzen, immer schnelleren Schritten, als versuchten seine Beine den vorgelehnten Oberkörper einzuholen. Mit Glück bekam er unseren Tisch zu packen, dann rief er dem Ober hinterher: „Drei Große noch!“ Der Ober auf der Treppe, eine schwarze Silhouette vor dem Neon, hörte den Befehl und verschwand in der Tür.
„Seid ihr aussem Osten? Mal ganz direkt gefragt.“
Der Tisch bog sich unter der Last, schwankte wie ein Floß. Wellen schwerer See, als würde er ihn mit sich in die Tiefe reißen, sobald er fiele. Links, rechts, ein balancierendes Spiel. Bizeps, Trizeps. Ein ärmelloses T-Shirt. Querstreifen. Gespannter