Die Wende im Leben des jungen W.. Frederic Wianka

Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka


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sich nicht. Er bleibt stehen und schaut mich wieder an. Ich überlege bereits, wie viele Stunden die Fahrt nach München dauern wird, und ob es nicht klug wäre, mich für mein nachlässiges Abstellen der Tasche zu entschuldigen. Worte wie: Es tut mir leid für Ihre Mühe. Oder: Ich hätte daran denken müssen, dass ich nicht allein reise. Vielleicht: Hätten Sie doch etwas gesagt. Aber wären das Entschuldigungen gewesen? Ich hätte ihn möglicherweise noch provoziert. Immer weitere Varianten vorauseilender Demut schießen mir durch den Kopf. Ich sage keine. Sie scheinen mir alle übertrieben oder nicht schlüssig, schließlich weiß ich nicht, ob er tatsächlich etwas von mir will. Vielleicht erscheine ich ihm nur so komisch wie er mir, starre ich ihn doch genauso unverwandt an. Und während ich noch über die letzte, bestimmt beste Möglichkeit nachdenke, diese Situation aufzulösen, indem ich ihm einfach einen Guten Tag wünsche, öffnen sich seine Lippen. Sie ziehen die kaffeebraun verklebten Mundwinkel auseinander, legen tabakgelbe Zähne frei. Und hinter diesen, unerwartet mühelos, formt seine Zunge die Frage: „Können Sie auf mein Gepäck aufpassen?“ Wieder einmal zu keinem eindeutigen Ja oder Nein imstande, sage ich, dass das durchaus möglich sei, vorausgesetzt, ich schliefe nicht. Scheinbar zufrieden, ohne einen Dank, verlässt er das Abteil in Richtung Speisewagen. Ich stopfe mir Ohropax ins Ohr, ziehe die Jalousie runter, lehne den Kopf an meine Jacke und schließe die Augen.

      Kennst Du den Schlaf in einem Zug mit seinen Träumen, die Dich in einem sanften Schweben davontragen, während Du Dich tatsächlich entfernst von allem, was in drückender Schwere wichtig war, so bestimmend, dass Du keinen Ausweg mehr gesehen hast? Du fährst auf ihm. Du spürst ihn unter Dir und fühlst ihn in Deinem Inneren. Mit der Ferne wächst der Abstand. Die Flucht gelingt – so gewiss wie Du zurückkommen wirst. Aber daran denkst Du nicht. Nicht, weil Du nicht willst, sondern weil Du es nicht kannst. Weil Du im Jetzt bist, auf diesem Weg ins Ungefähre. Weil alles schon entschieden scheint und in irgendeiner Abfolge läuft, die längst keinen Anfang mehr hat. Weich hüllte mich das Vibrieren ein, schwirrte von den Füßen durch den Körper in den Kopf, wattierte mein Gemüt und wog mich in den Schlaf … Ich hatte der Müdigkeit nachgegeben. Ich hatte nicht an die Kontrolle denken wollen. Ich, ein achtsam Reisender? Es hätte müdes Warten bedeutet, bloß weil jemand irgendwann sehen wollte, ob ich auch gezahlt hatte für meine Flucht.

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      UNGARN. Wie lange wir schon gefahren waren, von Schwerin eine halbe Stunde weg oder länger, ich weiß es nicht mehr. Ich hatte wieder Kraft geschöpft, auch die Übelkeit überwunden, bis auf ein flaues Gefühl, als ich aufstand. Ich wusste nicht, ob es Folge der Anstrengung war oder die Ungewissheit, ein Vorbote des Wagnisses, in das wir uns hineinbegeben hatten, wir unerfahrenen Reisenden. Mich bewegte nicht die Frage, was passieren könnte, die Reise schien gefahrlos. Es war die Sorge, was mit uns geschehen würde, das Sehnen nach dem Unbestimmten, ob es uns gleichsam widerfahren würde. Noch rollte der Zug durch die liebliche Unaufgeregtheit Mecklenburgs (Bezirk Schwerin, wie unser Republikteil hieß. Ein Wort, das schon so fern klingt.) Alles war mir so vertraut in diesem welligen Moränenland mit seinen dahingeworfenen Hügeln, die keine Ketten bilden wollten, den vielen Tälerteichen, denen das Seegewordensein verwehrt geblieben war, den trotzigen Morgennebeln über den größeren Wassern, seinen Buchenwäldern, dicht und dschungelgleich. Aber schon bald, wir hatten Wittenberge kaum hinter uns gelassen, war alles das nicht mehr, nur noch sandige, vom Gleis geteilte Fläche. Von trockenen Äckern zuweilen unterbrochen, standen Birken und in Forsten geometrisch ausgerichtete Kiefern. Dammwild drängte scheu im Lichtungssaum, wo es vorher noch frei gestanden. Ungleich trockener schien die Sonne, brannte herab auf das, was schon hätte Fremde sein können, wenn das Leben dort nicht das gleiche gewesen wäre.

      Du hattest bewegungslos auf Deinem Platz gesessen, den Kopf auf die Hand gestützt und in die Landschaft geschaut. Ich hatte nicht einmal ein Zucken Deiner Augen bemerkt, als ich die Abteiltür aufgezogen und mich auf den Platz gegenüber gesetzt hatte. Deine sichtbare Verärgerung war mir allzu vertraut, so wie Dir die Enttäuschung über meine Unzuverlässigkeit, die Dir mein Zuspätkommen wieder einmal bestätigt hatte. Aber ich hatte es geschafft, dank Deiner Hilfe. Und ich spürte wie tief unsere Freundschaft war. So wie ich mich heute, während ich das schreibe, an dieses Empfinden wieder erinnere, so wenig ich mir Deines Interesses daran sicher sein kann.

      Wie ein unausgesprochenes Einvernehmen hattest Du bald Dein Buch genommen und zu lesen begonnen, während ich, Heim- und Fernweh zugleich empfindend, aus dem Fenster schaute. Wir tauschten nur einen verstohlenen Blick, wenn ich, von der einen Seite Brandenburger Fläche müde geworden, zur anderen sah. Oder Du, zu einer kurzen Pause gezwungen, eine Seite in Deinem Buch umblättertest. Wir saßen uns wortlos gegenüber, bis Du, ohne von Deinem Buch aufzuschauen, meintest, der Schaffner habe bestimmt frieren müssen, als der jugendliche Wind ihm die Mütze vom kahlen Kopf geblasen hatte. Erst damit fiel mir wieder ein, ich hätte mich nie mehr daran erinnert, wie ich hinter dem Schaffner über seine auf dem Bahnsteig liegende, wie ein Nachttopf offene Schirmmütze gesprungen war. Wie ich im Flug das Bein noch streckte, um nicht hineinzutreten. Und wie ihr vorheriger Träger mit beiden Händen gegen die Tür drückte, während ich meinen Rucksack in den Zug warf. An sein glühendes Gesicht, dieses Krebsrot, das sich von dort ausgehend über den kahlen Kopf zog, das einen wunderbaren Kontrast in dem weißen Haarkranz fand, den sein Alter ihm noch gelassen hatte.

      Du warst versöhnt, wie ich jetzt wusste. Vielleicht warst Du es schon mit dem Spaß, den der Schaffner Dir mit dem albernen Streit um die Tür bereitet hatte, bloß weil sein Zug aufgehalten worden war. Nur weil Du ein republikweites Räderwerk um seine Planmäßigkeit zu bringen drohtest, in Deinem Wunsch nicht ohne mich zu reisen. Du, ein Einzelner, und einmal nicht das System mit seinen allgemeinen Unzulänglichkeiten selbst. Ich bin mir auch sicher, dass Du Dich nicht aus Zorn so schnell von mir abgewendet hattest. Vielmehr konntest Du Dir das Lachen nicht verkneifen, wolltest aber nicht auch noch dankbar sein, hast Dich umgedreht und bist zum Abteil gegangen, mit meinem Rucksack in der Hand.

      Wir fuhren bis Berlin in wortloser Beredsamkeit. Deine Augen waren auf das Buch gerichtet, während meine sich ausruhten an der Tristesse der Mark – ein Wort, das ich damals nicht kannte, in seiner Bedeutung nicht kennen musste. Noch waren alle Grenzen unerreichbar fern und am Horizont zeichnete sich nur der glockenhafte Dunst Berlins ab. Bald schon tauchten wir hinein. Endlos die lückenhaften Häuserzeilen, die sich auftaten, die verrußten Fassaden, die abgebrochenen Balkone. Und immer wieder zerschossenes Mauerwerk, wie zur Deckung mahnend, auch dort, wo nicht nach dem ersten Anruf scharf geschossen wurde. Unverhofftes Grün zwischendurch. Große, weite Parks. Klein und parzelliert hingegen, aber ebenso menschenleer das aussteigerhafte Schrebergartenidyll. Eingezäunte, heile Welten mit Wochenendobdach und Sonnenterrasse, mit Schirmen und aufgeblasenen Wasserbecken, mit grünem Obst an den Bäumen. Es war noch nicht reif, um schon gepflückt und eingekellert zu werden von dem, der den Lauf der Natur sieht, mit ihm den nächsten Winter, der nicht in dieser, seiner eigenen Welt war, nicht an diesem Vormittag. Der improvisierend oder bummelnd oder den Feierabend einfach abwartend sich gerade an einen größeren Plan verschwenden musste.

      Mit der S-Bahn von Lichtenberg zum Hauptbahnhof. Dort stiegen wir zu: Dresden, Prag, Bratislava, Budapest. Die exotischen Namen auf den Zugtafeln steigerten meine Vorfreude auf die erreichbare Ferne. Auch wenn ich es vorher gewusst hatte, so fühlte ich erst in dem Moment, als wir den Zug bestiegen: Wir fahren tatsächlich ganz woanders hin.

      In unserem Abteil saßen vier Männer, alte Männer, mit der geringen Zahl unserer Jahre gesehen. Sie saßen in derben Sachen, die niemals Mode gewesen sein konnten. Sie beugten ihre wettergegerbten Gesichter über Pergamente auf den Schenkeln, teilten Salami und Brot. Einer hatte ein Glas zwischen seine Beine geklemmt und fischte mit bloßen Fingern Paprikastreifen heraus. Wir hatten sie gestört, als wir mit dem Gepäck zwischen ihnen hindurch zu unseren Plätzen wollten. Sie aber, stehend nun und viel kleiner als wir, das Paprikaglas und die Pergamentpakete auf den Armen, wünschten uns freundlich Guten Tag. Die beiden Worte waren so akzentreich gesprochen, dass ich glauben musste, sie sprächen sonst kein Deutsch, sie hätten diese aus Höflichkeit dem bereisten Land gegenüber gelernt. Kaum dass wir unser Gepäck verstaut hatten und saßen, baten sie uns, mit ihnen zu essen. Ihre schwieligen Hände hatten bereits Brot abgebrochen, mit einem Taschenmesser Salami


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