Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek. Christopher Ross
Herrscher der Wildnis.
Besonders Jacobsen schien der Berg in seinen Bann gezogen zu haben. Ohne sich um die anderen zu kümmern, stapfte er davon, den Blick unaufhaltsam auf den fernen Berggipfel gerichtet, und bevor ihn einer der anderen zurückhalten konnte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte einen Hang hinab.
Julie lief ihm nach und zog ihn aus dem Schnee. »Haben Sie sich wehgetan, Scott?«, fragte sie besorgt. Er blickte an sich herunter und klopfte sich scheinbar geistesabwesend den Schnee von seinem Anorak. »Alles okay? Wo wollten Sie denn hin? Wir müssen in die andere Richtung.«
Jacobsen reagierte nicht.
»Scott? Sind Sie okay?«
Er schien aus einem Traum zu erwachen und blickte sie überrascht an. »Nein … das heißt, ja … alles in Ordnung. Ich wollte mir nur den Berg ansehen.« Er ließ sich von ihr den Hügel hinaufhelfen und lächelte verlegen. »Ich muss wohl noch ein wenig üben. Seltsame Dinger, diese Schneeschuhe …«
»Keine Alleingänge, Scott!«, empfing ihn Carol mit ernster Miene. Ihre Stimme hallte in der klaren Luft. »Stellen Sie sich einfach vor, wir würden durch die City von Chicago laufen. Da müssten wir auch zusammenbleiben.«
»Sorry«, entschuldigte er sich. »Ich wollte nur mal … sorry.«
Gegen Mittag überquerten sie den vereisten McKinley River und kämpften sich über einige vereiste Hügel weiter nach Süden. Weil es dort kaum Bäume gab, und ihnen der frostige Wind von den Bergen direkt ins Gesicht blies, kamen sie nur langsam voran. Besonders Kati hatte es schwer, das Gleichgewicht zu halten, und stürzte mehrmals, hatte jedes Mal Tränen in den Augen, wenn Julie ihr aufhalf, schüttelte aber heftig den Kopf, wenn Julie ihr anbot, sie zum Kleinbus zurückzubringen. »Noch können Sie umkehren, Kati! Niemand wird Ihnen böse sein, wenn Sie aufgeben. Viel schlimmer wäre es, wenn Sie unterwegs zusammenbrechen und wir sie tragen oder einen Hubschrauber rufen müssen. Seien Sie ehrlich, Kati! Warum quälen Sie sich so? Man sieht Ihnen doch an, wie Sie leiden. Sie sind keine Wanderin, stimmt’s?«
Kati sackte in den Schnee und begann erneut zu weinen. Wie eine Bettlerin hockte sie im tiefen Schnee, das Gesicht und die Augen von der Kälte und den Tränen gerötet, und hielt sich an Julies Beinen fest. Die anderen waren bereits weitergegangen und merkten erst jetzt, dass die beiden zurückblieben.
»Ich will nicht mehr zurück!«, schluchzte Kati. »Lieber sterbe ich hier oben, als dass ich noch mal zu diesem Scheusal zurückkehre!« Sie weinte jetzt ungehemmt, schniefte mehrmals und nickte dankbar, als Julie ein Taschentuch aus ihrer Anoraktasche kramte. Sie schnäuzte sich und heulte gleich wieder.
»Beruhigen Sie sich, Kati.« Julie nahm an, dass Kati vor ihrem Mann oder ihrem Freund davongelaufen war, und wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie blickte Hilfe suchend auf Carol, die bei den anderen Wanderern geblieben war. »Sie können nicht vor Ihren Problemen davonlaufen«, fuhr sie fort und kam sich dabei wie eine besserwisserische Mutter vor. »Schon gar nicht in dieser Wildnis! Sie bringen sich nur unnötig in Gefahr. Wir haben eine lange Wanderung vor uns, Kati, die halten Sie niemals durch, wenn Sie sich weiter so verrückt machen.« Sie zog Kati vom Boden hoch und nahm sie in die Arme. »Es wird alles wieder gut, Kati! So schlimm kann es doch gar nicht sein.«
»Ich kann aber nicht zurück.« Kati heulte wie ein kleines Mädchen. »Er … er hat mich geschlagen, und als … als ich gesagt habe, dass ich … ich mich von ihm trennen will, hat er … ich kann nicht zu ihm zurück … ich kann nicht!«
Julie fühlte sich an die Scheidung ihrer Eltern erinnert, obwohl ihr Vater ihre Mutter niemals geschlagen hatte. Dafür hatten sie Schimpfworte in den Mund genommen, die ihr heute noch die Röte ins Gesicht trieben. »Warum gehen Sie nicht zu Ihren Eltern? Oder zu einer Freundin? Haben Sie eine Freundin?«
»Becky … in Fairbanks. Ich bin … bin weggelaufen …«
»Gehen Sie zurück, Kati. Sprechen Sie sich mit ihr aus. Ich war auch immer bei meiner Freundin, wenn ich Zoff mit meinen Freunden hatte. Es nützt doch nichts, vor Ihrem Mann wegzulaufen. Ihre Freundin hilft Ihnen bestimmt, das alles durchzustehen. Hier draußen quälen Sie sich doch nur unnötig. Sie haben doch gar keine Lust, auf Schneeschuhen durch die Wildnis zu stapfen. Sie wollen nur weg, oder?«
»Er ist nicht mein Mann. Er ist mein … mein Freund.«
»Gehen Sie zu Ihrer Freundin. Soll ich Sie zurückbringen?«
Sie hörte auf zu weinen und schnäuzte sich noch einmal. »Ja … ja, bitte!«
Carol hatte sich von der Gruppe gelöst und die letzten Worte mitgehört. Ihrer Miene war anzusehen, dass sie auf einen solchen Zwischenfall gefasst gewesen war. Sie wechselte einen verständnisvollen Blick mit Julie und zog ihr Funkgerät aus der Tasche. »Zentrale, bitte kommen! Ranger Schneider hier. Wir sind ungefähr zwei Meilen südlich des McKinley Rivers auf dem Indianerpfad und haben eine …« Sie suchte nach dem passenden Wort. »… eine Kranke hier. Kati Wilcott. Körperlich gesund, aber starke Erschöpfungserscheinungen. Schicken Sie uns einen Ranger. Ranger Wilson kommt Ihnen mit der Kranken entgegen. Over.« Sie steckte das Funkgerät weg und wandte sich an die noch schniefende Frau. »Keine Angst, Kati. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten für Sie. Der Ranger bringt Sie zu Ihrem Wagen, okay?«
»Okay.« Sie flüsterte fast. »Und vielen Dank. Ich wollte nicht …«
»Schon gut, Kati. Alles Gute für Sie.« Sie legte eine Hand auf Katis linke Schulter und blickte Julie an. »Wir warten unterhalb des Felshanges auf dich.« Sie deutete auf eine keilförmige Felswand, die wie eine überdimensionale Scherbe oberhalb einiger Hügel aus dem Schnee ragte. Das Tageslicht war inzwischen noch heller geworden und ließ den Schnee glänzen, der sich in der zerklüfteten Wand gesammelt hatte. »Dort hätten wir sowieso gerastet. Wenn du dich beeilst, könntest du in zwei Stunden dort sein.« Sie klopfte auf die Tasche mit ihrem Funkgerät. »Melde dich, wenn irgendwas schiefläuft!«
»O. k.«, gehorchte Julie. »Ich beeile mich, Carol.«
Der Rückweg war weniger anstrengend, als Julie befürchtet hatte. Die Gewissheit, das ungeliebte Abenteuer bald hinter sich zu haben und auf dem Weg zu ihrer Freundin zu sein, schien neue Kräfte in Kati freizusetzen. Sie marschierte schneller und sicherer und stürzte nur einmal, als sie mit ihrem rechten Schneeschuh über einen hervorstehenden Felsbrocken stolperte. Noch waren die Spuren ihrer Wandergruppe im Schnee zu sehen, und der Schnee war teilweise so festgetreten, dass sie sich nicht mehr so anstrengen mussten wie am Vormittag. Im trüben Licht wanderten ihre Schatten über den Schnee.
Erhart erschien mit dem Hundeschlitten der Rangerstation am Wonder Lake. Er grüßte sie mit einem sparsamen Lächeln, das er sich wahrscheinlich von irgendeinem Westernheld abgeguckt hatte. »Ich hab Ihnen ein paar Decken mitgebracht«, sagte er zu Kati. Er half ihr, die Schneeschuhe abzuschnallen, und trug sie zu seinem Schlitten. »Das erinnert mich an einen alten John-Wayne-Film«, erzählte er Julie, als Kati eingepackt auf der Ladefläche saß. »›North to Alaska‹ … schon mal gesehen? Also, da packte der Duke diese schöne Lady und trug sie quer durch die Stadt zu seinem Schlitten … den Duke, so nannten sie John Wayne, den größten Westernheld von allen …«
»… der eine Lady bestimmt nicht warten ließ. So long, Ranger.«
»So long, Missy!«, ahmte Erhart die heisere Stimme des legendären Schauspielers nach. Er stieg auf seinen Schlitten. »Und grüßen Sie Carol von mir!«
»Mach ich. Alles Gute, Kati!«
7
Julie schaffte es in weniger als zwei Stunden zu dem Felsvorsprung. Vor allem auf den letzten Metern zahlte sich ihr regelmäßiges Training mit dem Hundeschlitten aus. Dort führten die Spuren der Wandergruppe über mehrere steile Hänge, und sie hatte es vor allem ihrer guten Kondition zu verdanken, dass sie kaum ins Schwitzen geriet. Die eisige Kälte und den Wind, der unablässig über die Hügel strich, wenn auch nicht besonders stark, war sie seit Langem gewöhnt. Schon in Montana waren die Winter meist extrem kalt gewesen.
Auf jeder Hügelkuppe blieb Julie kurz stehen und genoss ihre Umgebung.