Die Taube auf dem Dach. Dagmar Gaßdorf
Treppe zum vermieteten Dachgeschoss hörte. Auch den von Ludger. Selbst einer wie er, wahrlich kein Schwergewicht, konnte Barbara nicht in ihrer Wohnung besuchen, ohne gehört zu werden.
Ludger, der Tanzstundenfreund, Abiball-Partner, Fahrradlehrer und Kompositeur der Uher-Tonbänder mit der geliebten Musik von Cat Stevens und Leonard Cohen, hatte angefangen, Chemie zu studieren. Aber er hätte jede Naturwissenschaft und jedes technische Fach studieren können, denn ihn faszinierten solche Dinge wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Von dem konnte er nicht genug erzählen, und bis hin zu der Erklärung, wie man ohne diesen zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht verstehen könne, wie Ordnung und Unordnung in die Welt kommen, versuchte er alles, Barbara mit seiner Begeisterung anzustecken.
Sensible Beobachter hätten damals schon ahnen können, dass die Beziehung zwischen diesen beiden nicht gut gehen würde – lange bevor Barbara in die Werbung ging und Ludger ihr empört vorhielt: „Ihr könnt zwar Fernsehspots machen; aber ihr wisst noch nicht einmal, wie so ein Fernsehgerät funktioniert!“ Denn seine Frau, und das war Barbara zum Zeitpunkt dieser Empörung bereits, wollte das gar nicht wissen.
Vielleicht verwechselte Barbara ihre Bewunderung für die außerordentliche technische Begabung dieses jungen Mannes mit Verliebtheit; jedenfalls fiel sie ihm strahlend um den Hals, als er ihr mit Hilfe großer Untertisch-Behälter, durch Schläuche und Ventile verbunden mit einer riesigen Obertisch-Porzellanschüssel, die damals schon so elegant aussah wie die auf Holzflächen stehenden angesagten Rundbecken von heute, trotz mangelnden Fließwassers zu einem funktionierenden Inhouse-Waschtisch verholfen hatte.
Die Konstruktion war ihrer Zeit auch innenarchitektonisch weit voraus, da Barbara sie von ihrem Bett aus sehen konnte. Wenn sie später in ein luxuriöses Hotelzimmer mit einem der in Mode gekommenen, zum Schlafzimmer offenen Bäder kam, musste sie an Ludger denken, der so gut zu ihr gewesen war, und an diese ihre erste eigene Wohnung. Es kommt alles wieder, dachte sie dann, man muss nur lange genug warten. Nur eine verflossene Beziehung, die kommt nicht wieder.
Man schrieb die siebziger Jahre, und Luxus-Hotels waren für Barbara eine völlig unbekannte Welt. Noch nicht einmal an ein eigenes Auto war zu denken, und dies, obwohl die Miete für die Dachwohnung unschlagbar günstig war. Aber es gab ja eine Buslinie zur Uni, wenn auch eine mit Umsteigen. Als sie das Jahrzehnte später einem ihrer Enkel erzählte, meinte der: „Oma, das gefällt mir. Weißt du, ich will gar kein Auto.“
Weniger schön an den Busfahrten war, dass an einer Haltestelle häufig ein korpulenter Student zustieg, der Barbara immer mit hochrotem Kopf anschaute und ihr irgendwann ein Briefchen zusteckte. Es war eine Liebeserklärung. Ein winziges Format hatte der Mensch dafür gewählt, eine Inkongruenz, die lächerlich hätte wirken können, die ihn aber fast schon wieder sympathisch machte.
Denn was ist schon lächerlich? Lächerlich war dann auch, was Barbara studierte. Lehramt nämlich. Der liebe Gott mochte wissen, warum dieses Mädchen, das jeden Studiengang hätte wählen können, ausgerechnet Lehrerin werden wollte. Waren es wunderbare, große Vorbilder? Wohl kaum: Bereits die Volksschullehrerin, eine seltsam geschlechtslose Frau mit straff über die Kopfhaut gekämmten und am Ende in einem Dutt versteckten Haaren, hatte Barbara in unguter Erinnerung; es tat schon weh, wenn man die Ohren umgedreht bekam, weil man während des Unterrichts aus Langeweile gemalt hatte. Wenig gute Gefühle hatte Barbara auch beim Gedanken an ihre Geschichtslehrerin im Gymnasium, die Frau mit dem Klumpfuß, die sie immer so feindselig angeschaut hatte, weil sie alles auswendig aufsagte. Und der Lateinlehrer, der mit dem abgesägten Finger, redete dauernd in einem verschwörerischen Ton von der Ars amandi, ohne jemals genauer zu erzählen, welche erotischen Sachen sich da bei Ovid finden. Ihre Förderer schließlich, allen voran der Deutschlehrer, waren so begeistert von ihr, dass sie ihre Schwächen nicht erkannten.
Warum also Lehramt? Die Antwort war trivial: weil Barbara außer Ärzten und Lehrern aus eigener Anschauung, eigenem Erleben, keine akademischen Berufe kannte. Und Ärztin kam für sie nicht in Frage. Vor dem Abitur war sie, einem Appell des katholischen Religionslehrers folgend, jeden Sonntag ins örtliche Marienhospital gegangen, um dort den Nonnen bei der Krankenpflege zu helfen, unbezahlt natürlich. Aber während der so genannte Schweinetrog auf dem Hof des Krankenhauses, in den die Reste der Patienten-Essen zu befördern waren, sie nur ekelte, wurde ihr beim Anblick größerer Blutmengen schlecht.
Es nützte daher nichts, dass wohlmeinende Lehrer rieten, sie möge doch Medizin studieren; da könne man am meisten verdienen – was damals noch stimmte. Bei ihrem Zeugnis würde sie doch sofort genommen! Als ob die Patienten etwas von Einsern auf dem Zeugnis hätten, dachte Barbara. Die waren doch viel besser mit Ärzten bedient, die kein Problem mit solchen Sachen wie Blut und Eiter hatten.
Da Rudolf und Hildegard Brinkmann niemals einen Anwalt konsultiert hatten und auch keinen Umgang mit solchen Leuten pflegten, womit auch die Welt der Rechtsprechung für ihre Kinder eine völlig fremde war, und da das Universum der Kunst für Barbara vor allem aus Büchern und Schallplatten bestand, ohne dass sie jemals mit Künstlern in persönlichen Kontakt gekommen wäre, blieb also vermeintlich nur das Lehramt übrig.
Nein, das stimmt nicht ganz: Sie hätte auch Priester werden können; in dieser Welt kannte sie sich aus. Aber die katholische Kirche war noch nicht so weit, Frauen zuzulassen, und sie ist es, obwohl ihr die männlichen Kandidaten langsam, aber sicher völlig abhanden kommen, bis heute nicht. Nicht dass Barbara das damals schon so klar gesagt hätte; dazu war sie noch zu sehr im System gefangen. Und auch den Mut zur unverblümten Sprache sollte sie erst noch lernen.
Ludger studierte bereits an der Ruhr-Universität, als Barbara dort anfing. Wäre sie in einem großbürgerlichen Elternhaus aufgewachsen, wäre sie vielleicht lieber auf eine Schauspielschule gegangen. Vielleicht auch auf eine Kunst- oder Musikhochschule. Oder auf eine Journalistenschule. Aber all das lag jenseits ihres Horizonts. Also studierte sie aus dem Fächerkanon, den die RUB zu bieten hatte, das, was sie von dem, was sie zu kennen glaubte, am meisten interessierte: Sprache und Literatur, und zwar in den Sprachen, die ihr durch die Schule vertraut waren. Auf die Uni übertragen hieß das: Germanistik, Anglistik und Romanistik.
Oft holte sie Ludger in seinem Labor ab. Da roch es manchmal unangenehm, und nicht selten stank es sogar, denn Ludger hatte sich für Organische Chemie entschieden. Es konnte sein, dass ein Kommilitone – Frauen sah Barbara da nie – gerade mit irgendeinem Kohlenwasserstoff experimentierte und ihrem Freund dann Aromen ähnlich denen einer Herrenankleide in einer alten Sporthalle noch Stunden später in den Kleidern hingen und nach dem Kleiderwechsel immer noch in den Haaren. Da war es schon angenehmer, man begab sich rein literarisch ins Labor, dachte Barbara; man konnte ja, statt sich mit Brückenkopf-Diazonium-Ionen zu beschäftigen, auch mit Goethes Faust etwas pauschaler die Frage stellen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Dass Barbara im faustischen Sinne mit heißem Bemühen studierte, um den Dingen auf den Grund zu gehen, kann man bei aller Sympathie nicht behaupten. Was die Welt im Innersten zusammenhält, interessierte sie weniger als der Umstand, wie genial diese Frage formuliert war. Wie Inhalte zu schönen Klängen werden – das war es, was sie faszinierte.
Mit großer Neugier nahm sie auch jenseits ihrer Studienfächer jede Gelegenheit wahr, Sprachwelten mit anderen Inhalten und anderen Klängen kennen zu lernen. Erst recht, wenn noch solche Anreize hinzukamen wie bei dem Portugiesisch-Lektor mit dem klassisch schönen Profil und der weichen Stimme, bei dem Lischboa nicht wie die portugiesische Hauptstadt klang, sondern wie das Versprechen einer Kuschelnacht. Gesagt hätte sie das dem Mann nie. Als Frau ergriff man nicht die Initiative.
Es scheint ohnehin so, als täten sich Ruhrgebietskinder schwer zu sagen, was sie fühlen, wonach sie sich sehnen. Selbst Barbara, die nicht unbedingt auf den Mund gefallen war und nicht ohne Grund Klassensprecherin, Schulsprecherin und dergleichen mehr gewesen war, neigte bei allem, was sie persönlich berührte, eher dazu auszudrücken, was sie nicht wollte.
So war es schon zu Schulzeiten gewesen, als sie am benachbarten Jungengymnasium an einem Russisch-Kurs