Die Taube auf dem Dach. Dagmar Gaßdorf

Die Taube auf dem Dach - Dagmar Gaßdorf


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aus, heimlich etwas davon abzuzupfen und es zu handflächengroßen, platten, weichen Lesezeichen zu verarbeiten.

      Bei einem von Angelas Pullovern, gestrickt aus feinster Wolle in gemischten Farben, war die Verlockung, daraus kleine Kunstwerke aus dem Spektrum zwischen Rot und Grün zu gestalten, schlicht unüberwindlich. Da Barbara ihr im Mathe-Unterricht beim Oberstudiendirektor nachgab, bei dem sie als Klassenbeste und Klassensprecherin eine Art Malefiz-Guthaben hatte, war der rotgrüne Angora-Pullover am Ende zumindest auf Angelas für Barbara gut erreichbarer rechter Schulter schon etwas kahler als auf der linken, als der Schulleiter ihr dann doch einen missbilligenden Blick zuwarf. Eine Strafe bekam sie nicht. Endlich hatte Barbara etwas zu beichten.

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      Mit dem Beichten, wenn sie denn katholisch gewesen und hingegangen wären, hätten andere Mädchen es leichter gehabt. Nur kurz zur Klasse gehörte eine Schülerin, deren Eltern es aus Hannover ins Ruhrgebiet verschlagen hatte. Sie war deutlich älter als der Schnitt, weil sie angeblich früher schon einmal eine „Ehrenrunde“ gedreht hatte und nun bereits zum zweiten Mal eine Klasse wiederholte.

      Sie hieß Gabriele, war groß gewachsen, sah schon recht fraulich aus und fiel dadurch auf, dass auf ihren Augen dicke schwarze Balken lagerten. Das waren Lidstriche. „Pass auf, gleich fallen dir die Klüsen zu!“, pflegte die Frau Doktor mit dem Klumpfuß zu Gabriele zu sagen, wenn die nicht schnell genug auf Fragen der Geschichtslehrerin antwortete.

      Aber Gabriele hatte andere Dinge im Kopf. Sie ging mit Jungen aus, und sie hatte einen „festen Freund“. Das fanden die anderen Mädchen ungeheuerlich, auch wenn sie alle gern zu den Stehtischen mit den Oberstufenschülern vom benachbarten Jungengymnasium hinüberschielten, wenn man sich nach Schulschluss „bei Tchibo“ traf. „Guck mal“, sagte dann die Birgit mit dem frechen Igelhaarschnitt, die ihren einer nicht korrigierten Hüftgelenksluxation geschuldeten hinkenden Gang dadurch kompensierte, dass sie den Klassenclown gab, „da kommt der blöde Huxelmeier!“ Alle lachten, denn der Huxelmeier war zwar groß gewachsen, aber auch ein wenig linkisch, und man konnte ja nicht ahnen, dass er eines Tages Professor der Astrophysik und Birgits Ehemann sein würde.

      Dumm war die Birgit keinesfalls, und ihre Behinderung sollte spätestens kurz vor dem Abitur durchaus auch Vorteile haben. Da war sie, nachdem auch sie einmal sitzengeblieben war, nämlich schon volljährig und hatte wegen ihrer Beschwerden beim Gehen als einzige in der Schule bereits den Führerschein und sogar ein eigenes Auto. Einen Fiat 500 zwar nur; aber wenn man keine Dicken mitnahm, passten sechs Mädchen hinein. So konnte man sich, wenn man zu Birgits Freundeskreis gehörte, zum ersten Mal im Leben erwachsen und trotz der Enge in dem kleinen Auto frei fühlen.

      Birgit war auch großzügig, denn an Taschengeld mangelte es ihr nicht. „Für fünf Mark einmal volltanken“, scherzte sie gern an der Tankstelle. Und Barbara revanchierte sich durch einen großen Eisbecher bei Di Maggio, der ersten italienischen Eisdiele der Stadt. Besonders lecker, aber leider auch am teuersten von allen, war der Amarena-Becher mit den dicken, schwarzroten, bissfesten Kirschen. Doch Barbara konnte sich das leisten, denn sie hatte zwar niemals Taschengeld bezogen, aber durch ihre Lehrer eine ganze Reihe von Nachhilfe-Schülern vermittelt bekommen, denen sie – je nach Defizit – Latein-, Englisch-, Französisch- oder auch Mathe-Unterricht gab.

      Das brachte gutes Geld; vor allem aber brachte es Einblicke in Barbara bis dahin unbekannte großbürgerliche Welten. Eine Schülerin, Friederike, genannt Fritzi, war die einzige Tochter des Direktors der örtlichen Gussstahlfabrik, und sie wohnte in einer weißen Gründerzeitvilla mit einem Klingelschild aus Messing. Wenn Barbara zum Nachhilfe-Unterricht zu Fritzis Haus ging und auf den glänzenden Knopf drückte, dachte sie immer, dass sie auch gern einmal ein Messingschild mit ihrem Namen hätte, bevor ihre Gedanken von einem lauten Bellen unterbrochen wurden. Es war der Hund, ein Rauhaardackel, denn Fritzis Vater war Jäger, wovon schon in der Eingangshalle ausladende Hirschgeweihe zeugten. Offensichtlich hatte der Herr des Hauses, den Barbara nie zu Gesicht bekam, all die armen Viecher auf dem Gewissen.

      Fritzis Mutter dagegen bekam Barbara sehr wohl zu Gesicht. Die liebte es nämlich, bei den Latein-Sitzungen dabei zu sein. Damals gab es den Ausdruck Helikopter-Eltern noch nicht; aber diese Frau war der Inbegriff einer Helikopter-Mutter. Eigentlich hätte Barbara es sogar gemocht, dass die Frau die ganze Zeit dabei saß, denn so konnte sie demonstrieren, dass ihre Leistung wirklich jede Mark wert war. Doch war sie verunsichert wegen der zarten Porzellan-Tässchen mit den aufgemalten Röschen, in denen der Tee serviert wurde, denn die hatten recht unhandliche Griffe und ihre zierlichen gebogenen Füßchen fanden in den glatten Untertässchen keinen Halt. Barbara wusste nicht, dass das Meißner Porzellan war, denn zu Hause waren die teuersten Tassen die cremefarbenen mit dem Goldrand, die aber nur an Festtagen hervorgeholt wurden; sie ahnte aber, dass die Tassen teuer waren, und hasste es, so zu tun, als sei sie den Umgang mit solchen Kostbarkeiten gewohnt, was Fritzis Mutter selbstredend unterstellte: Wie hätte dieses Mädchen auch in der Schule so gut sein können, wenn sie nicht aus einem großbürgerlichen Elternhaus stammte!

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      Als Weihnachten vor der Tür stand und Fritzi es in Latein von einer Vier auf eine Drei geschafft hatte, überreichte Fritzis Mutter der erfolgreichen jungen Nachhilfe-Lehrerin neben ihrem normalen Lohn ein Geschenk. Es war klein und offensichtlich zerbrechlich. Man konnte fühlen, dass sich unter dem geprägten Lackpapier mit der dicken Seidenschleife mehrere Lagen Seidenpapier befanden. „Für dich, zum Fest“, hatte Fritzis Mutter in einem feierlichen Ton gesagt, als sie Barbara beim Abschied das Päckchen übergab. „Ich werde es erst Heiligabend auspacken“, hatte Barbara erwidert, denn sie wollte sich beim Auspacken nicht zuschauen lassen. Das war gut gewesen, denn als sie, kaum außer Sichtweite, das Päckchen neugierig öffnete, konnte man ihr die Enttäuschung ansehen.

      Hervor kam ein schlichtes weißes Porzellan-Schälchen, keine zwanzig Zentimeter im Durchmesser, versehen mit zwei Griffen, die geformt waren wie Kordeln. Hilflos drehte Barbara das Ding um und sah am Boden einen verschwommenen blauen Strich. Ausschussware?, argwöhnte sie gekränkt und stellte das Schälchen zu Hause in die Vitrine zu Omas Sammeltassen.

      Später, als sie anfing zu studieren und ihre erste eigene Wohnung bezog, nahm sie das Schälchen jedoch mit und füllte es, wenn sie Besuch bekam, mit Knabbereien. Einmal bewirtete sie eine frühere Lehrerin, die ihr ein Kummerkind in Sachen Französisch ans Herz legen wollte. Die Frau imponierte Barbara, denn sie fuhr ein Cabrio mit dem Schriftzug Karmann Ghia, das nicht nur bei offenem Dach eine schöne Silhouette hatte.

      „Sieh an“, sagte die Ex-Lehrerin, als sie ein Plätzchen aus dem Porzellan-Schälchen naschte, „das ist ja KPM!“ Barbara tat so, als würde sie verstehen, und sagte nur trocken: „Ja, das habe ich von der Mutter einer Latein-Schülerin bekommen.“ Googeln konnte man damals noch nicht. Aber Barbara hatte inzwischen gelernt zu recherchieren und nahm die Bemerkung zum Anlass, sich mit den Signets berühmter Porzellanmanufakturen vertraut zu machen. Dies also war das Signet der „Königlichen“, die alle Teile mit dem kleinen blauen Zepter handsignierten – unter der Glasur und darum so verwaschen wirkend.

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      Wären die Klassenkameradinnen und die Nachhilfeschülerinnen nicht gewesen, hätte Barbara in so jungen Jahren niemals Kontakt zu einer großbürgerlichen Welt bekommen. Ihre Verwandten waren zwar alle ehrbare Leute, Handwerker und Handwerksmeister und kleine und mittlere Angestellte und Beamte; aber studiert, und zwar Medizin, hatte einzig der Bruder eines angeheirateten Onkels, der sich bei Familienfeiern immer über die „Spießer-Verwandtschaft“ lustig machte und eine Zigarette nach der anderen rauchte, bis er – noch recht jung – an Lungenkrebs starb.

      Auch in Barbaras zweitem großen Umfeld, der katholischen Kirche, tummelten sich eher einfache Leute. Die wussten zwar alle, dass die Heilige Barbara die Schutzpatronin der Bergleute war; aber nach den Patronen anderer Berufe hätte man sie nicht fragen dürfen. Vielleicht gab es ja gar keine Schutzpatrone für Akademikerberufe, dachte Barbara. Und vielleicht nahm die Neigung, an die Wirkmächtigkeit solcher Gestalten zu glauben, auch


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