Die Taube auf dem Dach. Dagmar Gaßdorf

Die Taube auf dem Dach - Dagmar Gaßdorf


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hölzernen Koffer versenken konnte. Klappte man den Koffer nach oben heraus, stand auf einmal eine Nähmaschine auf dem Tisch.

      Um nähen zu können, musste man zunächst für zwei Fäden sorgen: Der Oberfaden kam aus einem Garnröllchen oben auf der Maschine und wurde um ein paar Halterungen herum nach unten geführt, um dort in eine nach unten stechende Nadel eingefädelt zu werden. Der Unterfaden kam aus einem kleinen Verlies unter dieser Nadel, in das man eine silberfarbene Hülse einer zuvor aufgespulten zweiten Garnrolle steckte. Hatte man alles richtig gemacht, sah man unter dem „Füßchen“, das der oberen Nadel Halt gab, beide Fäden liegen.

      Angetrieben wurde die Nähmaschine durch ein Pedal. Das durfte man aber erst, und zwar behutsam startend, einsetzen, nachdem man das Handrad neben der Maschine als Anlasser benutzt hatte. Zu viel Kraft auf einmal, und der Faden riss oder die Fäden verhakten sich, und man konnte noch einmal von vorn anfangen.

      Barbara bewunderte dieses Möbel mit seinem kreativen Innenleben – weniger wegen der Technik, sondern wegen der wertigen Optik seines schmiedeeisernen, glänzend schwarzen Gestells. Wenn Mutter daran saß und nähte und wie eine Klavierspielerin kunstvoll das Pedal bewegte, machte das dezente Surren ein betörendes Geräusch; eigentlich war es Musik. An ein richtiges Klavier war in dieser Familie nicht zu denken. Es fehlte an Platz und vor allem an Geld.

      Als Barbara deshalb mit der Idee kam, dann doch bitte Geige lernen zu wollen, sagten die Eltern: In Gottes Namen! Eine Geige war nicht so platzgreifend, und kostenlos ausleihen konnte man ein solches Instrument auch. Doch die Freude war nicht von langer Dauer. „Das hält ja keiner aus“, beklagte sich Barbaras Bruder. Und selbst die Nachbarn, die noch nie ein böses Wort über Barbara gesagt hatten, beschwerten sich. Die Wohnungen, typische Nachkriegsbauten, waren in der Tat hellhörig.

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      Hildegard Brinkmann pflegte nicht nur die selbst genähte, sondern sämtliche Kleidung mit Hingabe. Dabei ging es ihr nicht nur um den Werterhalt. In heutigen Ohren mag das merkwürdig klingen; aber so Kräfte zehrend die monatliche „Große Wäsche“ auch war, so sehr fühlte diese für einfache Arbeiten eigentlich überqualifizierte Frau sich doch hinreichend belohnt, wenn sie sauber gewaschene Bettwäsche, Unterwäsche und Kleidung auf die Leinen hängen konnte. Richtig glücklich machte sie das im Sommer, wenn die Teile weiß und fröhlich schlagend im Wind flatterten, weniger im Winter, wenn sie mit steif gefrorenen Fingern vom Dachboden kam. So oder so aber waren dies die Tage, an denen die immer „wie aus dem Ei gepellte“ Frau, bei der man, wie ihre Schwester Helga spitz bemerkte, „vom Boden hätte essen können“, eine Frau, die sonst eher distanziert war, ihre Geselligkeit entdeckte. Denn dann saß sie mit den Nachbarinnen, die sich gegenseitig halfen, nach getaner Arbeit bei Kaffee und Kuchen und holte danach sogar noch den Likör hervor. Mit einer der Nachbarinnen war sie sogar „per du“: mit Doris.

      Am beliebtesten waren der Eier- und der Kaffeelikör. Barbara, die bei solchen Gelegenheiten den Tisch deckte und auch wieder abräumte, erlebte dann eine ganz andere Mutter als die, die kühl die Katholische Frauengemeinschaft abblitzen ließ. „Ich gehe doch nicht an Haustüren betteln“, hatte Hildegard Brinkmann gesagt, als die frommen Damen sie aufforderten, bei der Adveniat-Kollekte mitzumachen. Für sie musste es reichen, wenn sie und ihr Mann selbst etwas in den „Klingelbeutel“ taten.

      Auch das Bügeln schätzte die Mutter. Gleich nach dem Frühstück machte sie sich über Berge von Wäsche her, von der das eine oder andere Stück durchaus auch ohne vorherigen Kontakt mit dem Bügeleisen hätte angezogen werden können, und hörte während der dampfenden und zischenden Tätigkeit mit Vorliebe „Schulfunk“. Dafür, dass sie nur einen Volksschulabschluss hatte, war Hildegard Brinkmann erstaunlich breit gebildet. Es wunderte Barbara nicht, von einem Onkel zu hören, dass ihre Mutter – gleichauf mit einer späteren Schwägerin – die beste Schülerin ihrer Klasse gewesen war.

      Aufmerksam und zuverlässig korrigierte Hildegard Brinkmann in der Sprache ihrer Kinder, deren Kontakt zu „falsch sprechenden“ Kindern sie weniger schätzte, jeden grammatikalischen Fehler. Wenn etwa der kleine Bernd das von ihm gehasste Gedicht von den zwei Schwestern aufsagte und mit anklagender Kinderstimme sprach: „Die Adelheid trank roten Wein, den Käthchen schenkt sie Wasser ein“, dann geschah das zwar zum Vergnügen aller Zuhörer, hatte aber stets die Korrektur der Mutter zur Folge: „dem Käthchen, Bernd, dem Käthchen!“

      Manchmal wusste Barbara nicht, ob der kleine Teufel nicht absichtlich den falschen Akkusativ setzte. Grund genug, sich zu rächen, hatte er: Er war Linkshänder und hatte das Pech, in einer Zeit aufzuwachsen, als die Lehrer noch versuchten, Kindern solche „Eigenheiten“ auszutreiben. Da musste er dann vor der Klasse an der Tafel stehen und als unfreiwilliges Demonstrationsobjekt dafür dienen, wie viel „intelligenter“ es doch sei, die „schöne“ rechte Hand zu benutzen, weil man ja sonst beim Schreiben von links nach rechts die Kreide-Buchstaben verwische.

      Auflehnen müssen hätten sich die Eltern, Partei ergreifen für den Sohn, statt sich die Lehrersicht einer defizitären Veranlagung des Kindes zu eigen zu machen, dachte Barbara später. Aber das war in einer anderen Zeit, einer Zeit, in der es sowieso egal war, ob man mit rechten oder linken Fingern auf Tasten tippte oder Felder berührte; eine Zeit aber auch, welcher der Sinn für die Stil bildende Wirkung einer schönen Schreibschrift abhanden gekommen war, einer Zeit, die nicht mehr sehen wollte und konnte, welche kreative Kraftquelle Menschen verlieren, die nur noch tippen und nicht mehr schreiben.

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      Barbara wuchs auf in einer Zeit der Naivität und der Poesie-Alben, welch letzteren die meisten ihrer Mitschülerinnen immerhin den einzigen freiwilligen Kontakt zu gebundener Sprache verdankten. Die meist stoff- oder lederbezogenen Bücher mit ihren gepolsterten Deckeln, die mit Gedichten und Sinnsprüchen zu füllen waren und von denen die teureren Exemplare Schlösser hatten, wurden der Reihe nach an alle gereicht, die einem nicht allzu unsympathisch waren und von denen zu vermuten war, dass sie den kostbaren Besitz weder mit Fettflecken noch mit Eselsohren verunzieren oder ihn gar verbummeln würden. Denn ein volles Poesie-Album war eine Trophäe, besonders dann, wenn auch viele Lehrer-Einträge darin standen.

      Nicht dass die Beiträge der Lehrer immer besonders geistreich gewesen wären, bedienten die armen Opfer der kindlichen Sammelwut, die zum Glück ausschließlich die Mädchen erfasst hatte, sich doch gern abgegriffener Weisheiten eines Lao Tse oder sonstiger fernöstlicher, von Fall zu Fall auch antiker Denker oder bemühten, wenn die Besitzerin des Albums ihnen wenig bedeutete, den Joker-Spruch, der immer ging: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“

      Immerhin waren die Lehrersprüche zu jener Zeit stets sauber und fehlerfrei geschrieben, und selbstredend waren sie meilenweit entfernt von jenem Lieblingseintrag aller mäßigen Schülerinnen, bei dem meist sämtliche i-Punkte als blutrote Herzen hervorgehoben waren und die Buchstaben, unten eckig ausgeformt, nach links kippten: „Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“

      Die herzförmigen i-Punkte, von ihren Schöpferinnen als Schmuck gedacht, waren so etwas wie in späteren Jahrzehnten die aufgeklebten Tattoos von deren Enkeln: eher Psychogramme.

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      Zu den Mädchen mit den blutroten Herzen, die in diesem Fall obendrein nach innen gebogene Konturen und eine schwarze Außenlinie hatten, gehörte auch Angela mit der Blümchenhaarspange, die gern erzählte, dass sie sämtliche Karl May-Bände besaß – die mit Winnetou und Old Shatterhand genauso wie die mit Hadschi Halef Omar. Ja, sie konnte sogar, obwohl sie sich sonst mit dem Lernen schwer tat, den kompletten Namen Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah auswendig sagen. Und sie ließ gnädig erkennen, dass sie die Karl May-Bücher gegebenenfalls ausleihen würde.

      Bis sie wegen zu schlechter Leistungen die Schule verlassen musste, saß Angela fast ein Jahr lang in der Klasse eine Bank vor Barbara, im Sommer in geblümten Rüschenkleidern und im Winter in Angora-Pullovern. Wenn der Unterricht langweilig


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