Die Taube auf dem Dach. Dagmar Gaßdorf

Die Taube auf dem Dach - Dagmar Gaßdorf


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mit Kränzchen herausgeputzten „Engelchen“ alias Cousine Sabinchen zugewandt.

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      Rudolf Brinkmann ging es vor allem um die Geselligkeit. Es war ihm einfach eine Freude, Gastgeber zu sein; da war ihm jeder Anlass recht. Aber Hildegard Brinkmann wollte ihre Kinder bei jeder Gelegenheit als die besten und schönsten sehen. Bei Bernd biss sie da auf Granit; darum sagte er auch, wenn diese Aufforderung erwartungsgemäß auf ihn zukam, partout nicht vor Gästen „die blöden Gedichte“ auf, und mochte die Mutter es hundertmal verlangen. Aber bei Barbara schaffte sie es, das Kind zu dem zu machen, was sie selbst gern gewesen wäre. Wie sie so artig war, so dienstbeflissen, so klug. Sie führte sogar solche Wünsche der Mutter aus, die diese noch gar nicht ausgesprochen hatte: Ein „Einer müsste mal …“ – und schon brachte Barbara den Müll hinunter, wusch ab oder was sie sonst an Schlussfolgerung pflichtschuldig aus den Worten der Mutter herausgehört hatte.

      Bernd hasste diese Methode der Mutter, und er war wütend auf seine Schwester, weil sie funktionierte wie gewünscht und ihn dadurch zum Versager stempelte. Er war aber kein Versager; er wollte dieses Spiel nur nicht mitspielen. Einerseits tat es ihm gut, dass die Eltern, wenn sie von „unserem Bernd“ sprachen, ihm nicht anders als seiner Schwester eine Art Stempel der Akzeptanz aufdrückten; andererseits störte ihn die damit verbundene stolze Botschaft gelungener Erziehungsarbeit.

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      In den Monaten vor dem, was Monika aus der Bukowina die „Kommion“ nannte, drehte sich alles um dieses Thema. Unter den Mädchen war eine Art Leistungswettbewerb ausgebrochen, wer wohl das schönste Kleid hätte und wer die meisten und eindrucksvollsten Glückwunschkarten bekäme. Besonders begehrt waren die dicken Doppelkarten mit angehängten Kreuzen und geprägten goldenen Kelchen, über deren glänzende Rundungen man so wollüstig mit dem Zeigefinger streichen konnte.

      Bei den Jungen interessierte eher, wer seinen Karten die höchste Geldsumme in Form von vorzugsweise braunen oder – besser noch – blauen D-Mark-Scheinen entnehmen konnte. Die schönen Bilder auf den Scheinen – ob Cranachs junger Mann auf dem Zehner oder Dürers Nürnberger Kaufmannsfrau auf dem Zwanziger – wurden dabei kaum wahrgenommen. Ganz wenige Kinder waren es, die später den Wunsch entwickelten, vielleicht doch einmal die Originalgemälde, die als Vorlage gedient hatten, in den Museen zu sehen. Vielleicht hätten sie ja wenigstens Lust auf die Burg Eltz oder den Limburger Dom bekommen, wenn die Ikone der Ritterlichkeit und der Stolz der deutschen Romanik nicht die Rückseiten von Scheinen geziert hätten, die sie nie in die Hand bekamen: der Fünfhunderter und der Tausender.

      Den Kindern konnte man daraus keinen Vorwurf machen, war die Frage, wer seinem Glückwunsch wie viel Geld beifügte, doch auch den frömmsten Eltern wichtig. Es ging um einen Maßstab der Wertschätzung, bei dem das Tarifgefüge zu respektieren war. Undenkbar, dass ein Patenonkel weniger „springen ließ“ als ein Nachbar, der noch nicht einmal katholisch war, oder dass Verwandte, die zum Festessen eingeladen waren, weniger in den Umschlag steckten als solche, die nicht kommen konnten. Solche Fehltritte konnten den Gebern jahrelang nachgetragen werden.

      Einem Tarifgefüge unterlagen auch die Fleißbildchen, die man im Kommunion-Unterricht bekam, kleine bunte Reproduktionen, meist von Sixtinischen und anderen Madonnen, die bei großer erdienter Menge das Gesangbuch unübersehbar aufblähten. Da Barbara von allen Kindern im Kommunion-Unterricht die meisten Fleißbildchen hatte, obwohl sie gar nicht in erster Linie fleißig war, sondern ihr das Lernen nur leicht fiel, trugen die Bildchen eigentlich den falschen Namen. Es konnte ja wohl nicht im Sinne des lieben Gottes sein, Leute für etwas zu belohnen, was sie völlig unverdient von ihm bekommen hatten.

      Die Monika jedenfalls hätte so fleißig sein können wie sie wollte – nie hätte sie eine Madonna im Rosenhag bekommen. Sie würde später auch ihre eigenen Kinder noch zur „Kommion“ geschickt haben, wenn sie bis dahin nicht längst aus der Kirche ausgetreten wäre, um die Kirchensteuer lieber in eine „intrigierte Mikrowelle“ zu investieren oder sich „ein Visa“ für einen Urlaub in „Domrep“ zu besorgen.

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      Das größte Problem für normal fromme Kinder war die erforderliche Beichte, wenn man doch gar nicht gesündigt hatte. Barbara waren die vorgeschriebenen Formeln natürlich bekannt: „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken.“ Aber dann sollte es ja konkret werden, damit man auch mit dem richtigen Maß an Buße aus der Düsternis des Beichtstuhls herauskam. Wie einfach es doch gewesen wäre, wenn man mal etwas gestohlen hätte! Oder jemandem ein Bein gestellt, so dass er hingeflogen wäre. Oder wenn man wenigstens gelogen hätte.

      Irgendwie ahnte Barbara, dass man bei dem jungen Kaplan, der immer so rot wurde, am besten mit „unzüchtigen“ Gedanken hätte punkten können. Aber da hätten sie einem bitteschön einmal erklären müssen, was das ist. Die Eltern konnte sie so etwas nicht fragen, da hätte sie sich einen Tadel eingefangen; und ihre immer modisch gekleidete Patentante Helga, der sie am ehesten zutraute, dass sie die Antwort wüsste, weil sie aus der Kirche ausgetreten war und sich im Gegensatz zu ihrer Schwester Hildegard die Lippen schminkte, hätte nur laut gelacht und gesagt: „Was erzählen sie euch Kindern da für einen Blödsinn!“

      Eine Sache wäre Barbara allerdings eingefallen; aber da genierte sie sich so, dass sie das doch besser für sich behielt. In der Siedlung, in der sie wohnten, gab es zwei Nachbarjungen, mit denen ihr Bruder manchmal auf dem Rasen hinter dem Haus Fußball spielte. Das Tor war die Teppichstange, über die, nachdem die festen Bodenbeläge sich durchgesetzt hatten, nur noch selten Teppiche zum Ausklopfen geworfen wurden. Es war an einem verregneten Tag, einem, der sich zum Fußballspielen nicht eignete, als Barbara in den Hausflur kam und die Stimmen von Bernd und seinen Freunden im Keller hörte. Sie öffnete die Tür zu den Kellerräumen und sah, wie die Jungen verschwörerisch die Köpfe zusammensteckten. „Komma, willste ma was sehen?“, rief einer aus der Gruppe und winkte sie zu sich.

      Da ihr Bruder auch dabei war, stieg Barbara die Kellertreppe hinunter und folgte dem Jungen nach links in die Nische mit den Wasseruhren, in der sie kein Licht gemacht hatten, so dass ihre Augen sich erst einmal an das Dunkel gewöhnen mussten. „Pass auf“, sagte Timo, der älteste der Jungen, der damals dreizehn gewesen sein muss und nicht besonders gut in der Schule war, griff dann in seine Hose und holte ein ziemlich großes, fleischiges Ding heraus. Barbara stieß einen spitzen Schrei aus, floh aus dem Keller und hörte die Jungen immer noch brüllend lachen, als sie vor der Wohnungstür im zweiten Stock angekommen war.

      Aber ob sie das beichten würde? Ihrem Tagebuch konnte sie das wohl anvertrauen, um es danach nicht nur mit dem kleinen Schlüssel zu verschließen, sondern gut zu verstecken. Schreiben ja; aber ob ihr das über die Lippen ginge?

      Wenn Barbara später, als die Beichtstühle meist nur noch als merkwürdiges Mobiliar einer fernen Vergangenheit in den Kirchen herumstanden, hinter dessen Gittern und Gardinen nichts mehr passierte, eine katholische Kirche betrat, musste sie an diese Episode im Keller ihrer Kindheit denken. Die Leute beichteten zwar immer noch, dachte sie dann, aber in Fernsehsendungen und auf Internet-Plattformen. Auf Stufe eins des Exhibitionismus stellte man sich vor möglichst vielen Menschen mit Selfies bloß; auf Stufe zwei machte man sich vor Voyeuren mit tränenreichen Verfehlungen wichtig.

      Schillers Schule

      „A und ab, e, ex und de, cum und sine, pro und prae stehen mit dem Ablativ.“ Barbara liebte solche rhythmischen Merksprüche, die das, was sie längst intuitiv verstanden hatte, unvergesslich ins Gehirn brannten. Der Lateinlehrer, ein rothaariger Mensch mit dicker Brille, der sich mit der Kreissäge den Zeigefinger der linken Hand abgeschnitten hatte, weil er vom Heimwerken wohl weniger verstand als von Caesar und Cicero, liebte dieses Mädchen, das so frisch und frei vor den kichernden Klassenkameradinnen des Mädchengymnasiums Hexameter skandierte: Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes! Warum man die Danaer fürchten sollte, wo sie doch Geschenke brachten – das hätte


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