Die Taube auf dem Dach. Dagmar Gaßdorf

Die Taube auf dem Dach - Dagmar Gaßdorf


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merkwürdiges Wort, dachte Barbara. Mit seiner Betonung auf der zweiten Silbe stellte es sich quer zum Sprachfluss des Deutschen. Hätte man damals schon googeln können, hätte sie es getan und dabei gefunden, dass ein Seefahrer aus Thomas Cooks Team es im 18. Jahrhundert aus Polynesien importiert hatte, wo die Leute etwas, was heilig und unberührbar ist, als „tapu“ bezeichnen. Das konnte für Orte gelten, die man nicht betreten darf, aber auch für Sachen, die man nicht essen darf. Eigentlich auch nicht anders als Fleisch, das am Freitag verboten war, fand Barbara, in deren Familie es dank dieser katholischen Marotte wenigstens einmal in der Woche das gab, was heute sowieso als gesünder gilt: Fisch.

      Kuriose Wörter für kuriose Sachen faszinierten sie. Und das hier war kurios! Man wusste schließlich nicht, woher die Tabuverbote kamen und warum es sie gab, aber dass die, die sie befolgten, sie für selbstverständlich hielten. Es machte daher gar keinen Sinn zu fragen, warum denn der eher heidnisch wirkende Opa in eine Familie einheiraten durfte, die nach den Worten einer späteren Freundin von Barbara „Weihwasser pinkelte“.

      Man wusste überhaupt wenig über den Nordmann mit dem kantigen Kopf, denn er sprach wenig. Man fragte sich auch, was seine für eine Westfälin verblüffend lebensfrohe, rundliche, kleine Frau mit den Silberlöckchen an ihm gefunden hatte. Tatsache war, dass er es schweigend hinnahm, wenn sie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten die gesamte Großfamilie bis hin zu den Verlobten der Enkelkinder in ihrer dafür eigentlich viel zu kleinen Wohnung versammelte und, von ihren Töchtern unterstützt, bekochte. Nur so viel stand fest: Nie wieder in ihrem späteren Leben, auch nicht bei so genannten Sterneköchen, sollte Barbara eine so traumhafte Rindfleischsuppe mit Eierstich und Markklößchen genießen und eine Bratensoße, für die man sogar den butterzarten Braten hätte stehen lassen. Tatsache war auch, dass der Opa es nicht merkte, wenn seine Frau ihn austrickste oder – wie Barbaras Mutter es konspirativer ausdrückte – „zu nehmen wusste“.

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      Wenn man im Ruhrgebiet chronisch krank ist, hat es man immer „an“ irgendetwas. Und dieser Opa hatte es „am Magen“. Er legte deshalb Wert darauf, keine Butter, sondern Margarine zu essen. Der Oma, für die „gute Butter“ getreu dem berühmten Kochbuch der Westfälin Henriette Davidis mit dem Titel „Man nehme“ für schmackhafte Speisen der unübertroffene Geschmacksträger war, passierte es schon einmal, dass sie, wenn sie anlässlich von deren „großer Wäsche“ zusammen mit ihrem Mann die Tochter Hildegard besuchte, um auf deren Kinder aufzupassen, die Margarine vergaß. Denn auf die Idee, seine Sachen selbst zu packen, wäre zu jener Zeit kein Ehemann gekommen; das galt als Frauensache. Tochter Hildegard kaufte aber keine Margarine. Sie schmeckte ihr nicht, und sie mochte auch keine bunten Becher auf dem Tisch; aus dem Becher heraus bekam man die Margarine aber nicht ohne Verlust. Die Oma dachte aber gar nicht daran, die Enkel zum Konsum zu schicken, um Margarine zu kaufen, wenn doch Butter im Hause war. Sie nahm vielmehr die Butter, ließ sie etwas weich werden und strich sie, die Enkel zu strengstem Schweigen verpflichtend, in ein Plastikgefäß mit Deckel, das von der Form her einem Margarinebecher glich. Der Opa hat es nicht bemerkt; aber die Enkelkinder hatten einen „Heidenspaß“, wie die Oma das nannte – ein Wort, von dem zu vermuten steht, dass es inzwischen genauso verboten ist wie der Negerkuss und der Sarotti-Mohr.

      Dass die Eigenheiten des Opas seiner Akzeptanz in der Familie keinen Abbruch taten, war besonders nach dem Tod seiner Frau einer stattlichen Knappschaftsrente zu verdanken, die er wegen seiner Staublunge bezog. Denn „am Magen“ mochte er es nach eigener Überzeugung haben; doch „an der Lunge“ hatte er es tatsächlich. Das machte den Bergbau-Opa bei allen seinen Kindern und deren Familien trotz seiner allseits bekannten kommunikativen Defizite zum umworbenen Hausgenossen, besserte dieses Familienmitglied doch das Haushaltsbudget auf, ohne groß zu stören. Denn den überwiegenden Teil seiner Tage verbrachte der Opa auf der Küchen-Eckbank und las Zeitung.

      Ob er, wenn er sonntags vormittags im feinen Zwirn und mit gebügeltem Hemd zum Frühschoppen ging, gegenüber seinen Kumpels in der Kneipe genauso wortkarg war, konnte niemand sagen. Die Welt der Bergbau-Veteranen war eine ganz eigene, in sich geschlossene. Eines Tages wären sie ohnehin alle „weg vom Fenster“ – eine Wendung, die der Neigung der Silikose-Geschädigten geschuldet war, zu ihren Lebzeiten am offenen Fenster nach Luft zu schnappen, bis sie irgendwann eben „weg vom Fenster“ waren.

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      Barbara würde vermutlich eine kräftige Lunge entwickeln, denn täglich ging sie zu Fuß zur Schule, zwei Kilometer hin und zwei Kilometer zurück. Näher gab es keine katholische Volksschule, und ein Bus oder gar eine Straßenbahn fuhr auf der Strecke nicht. Auf Wunsch der Mutter holte sie die am Wege wohnenden Klassenkameraden ab – im Fall der Monika aus der Bukowina vorgeblich aus Christlichkeit (schließlich gehörte es sich nicht, Leute zu verachten, weil bei ihnen Kämme auf dem Esstisch lagen), aber ehrlicherweise wohl wegen der Sicherheit, denn in der Gruppe zu gehen war für die Kinder immer noch besser als allein. Und die Kinder aus der Bukowina wussten sich zu wehren.

      Am Wege wohnte nämlich auch Uwe, ein etwas älterer, sogenannter böser Junge mit einem ebenso „bösen“ Hund, der Freude daran hatte, vorbeikommende jüngere Kinder ohne erkennbaren Anlass zu quälen. Von Ludwig, den Barbara noch vor der Monika abholte und der von seiner verwitweten Mutter mit der strengen Hochsteckfrisur nur „Luckilein“ gerufen wurde, war in solchen Situationen kaum Hilfe zu erwarten.

      Luckilein, ein sehr früh in die Höhe geschossener, dünner Junge, saß beim Abholen meist zusammengefaltet zu einem Häuflein Elend auf der Treppe zu seinem Kinderzimmer im ersten Stock. Im Winter hörte man ihn schon von draußen heulen, weil er spätestens im Angesicht der zweiten Schneeflocke seine schweren Skischuhe anziehen musste, denn dies war die Zeit, in der federleichte Funktionskleidung noch nicht erfunden war.

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      Auch Barbaras Bruder Bernd, zwei Jahre jünger als sie und zwei Klassen unter ihr, heulte gelegentlich aus Wut. Er aber besonders im Sommer, wenn Mutter Hildegard ihn nötigte, die ungeliebte kurze Lederhose anzuziehen. Bernd kam sich in dieser aus Bayern importierten Trophäe der Eltern, die sie aus ihrem ersten, in der Wirtschaftswunder-Euphorie gebuchten Urlaub mitgebracht hatten, vor wie ein Dorfdepp aus Oberammergau und fürchtete den Spott seiner kleinen Ruhr-Kumpel. Mit zornrotem Gesicht nahm er die Ohrfeigen hin, die er als Quittung bekam, nachdem er sich auf der Flucht vor Uwe an einem Stacheldrahtzaun einen Winkelhaken in das von Mutter mit Schuhcreme polierte Glanzstück gerissen hatte.

      Bernd war insgesamt eher widerständig. Er war Linkshänder und hasste es, in der Schule als solcher vorgeführt zu werden. Er hasste es auch, am Sonntag neben der großen Schwester zum Kirchgang abkommandiert zu werden – morgens zum Hochamt unter dem strengen Blick der Eltern, die hinter den Kindern die lange Straße zur Kirche hinunter gingen, und nachmittags noch einmal zur Andacht mit der „Bohnenstange“ allein. Denn Barbara war schon früh in die Höhe geschossen, während Bernd immer noch der süße kleine Junge mit rundem Gesicht und Kulleraugen war.

      Er war der hübscheste Messdiener, den sie in St. Blasius jemals gesehen hatten, und quittierte Sprüche wie „Fünf Minuten vor der Zeit ist Ministranten-Pünktlichkeit“ bei der Wandlung durch besonders lautes und heftiges Bimmeln mit der vierteiligen, glänzenden Messing-Glocke. Daran musste Barbara Jahrzehnte später denken, als ein Geschichtsprofessor in einem vornehmen Zirkel einmal genüsslich über die an der Ruhr geläufige Form der Beschimpfung im Akkusativ philosophierte: „Sie strubbeligen Messdiener, Sie!“

      Im Hause Brinkmann war es verpönt, sich der Ruhrgebietssprache zu bedienen. Da hatte Mutter Hildegard ein strenges Ohr drauf. Da sie nicht studiert hatte, wusste sie zwar nicht, was der Unterschied zwischen einem Dialekt und einem Sozio-lekt ist; aber da aus ihren Kindern „mal was Besseres“ werden sollte, schien ihr „Komma“ doch besser als Bezeichnung für ein Satzzeichen geeignet denn als Verkürzung für „komm einmal“. In Bayern oder Schwaben, so dachte Hildegard Brinkmann, sprachen sie alle Bayerisch oder Schwäbisch, bis hin zu den Ministerpräsidenten; zu Hause aber, an der Ruhr, sprachen die erfolgreichen Leute Hochdeutsch. Es sei denn,


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