Die Taube auf dem Dach. Dagmar Gaßdorf
was mit rhythmischer Sprache zu tun hatte, nicht genug bekommen können.
Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanze Seht euch nur die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann! Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanze
Es war zu schön, wie man in den folgenden Strophen die Wanze kleiner und die Pausen länger werden ließ:
Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanz- Seht euch nur die Wanz- an, wie die Wanz- tanz- kann! Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanz-
bis man schließlich angekommen war bei:
Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine W--
Seht euch nur die W-- an, wie die W-- t-- kann!
Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine W--
Ein seltene Art von Gedächtnis machte es dieser Schülerin außerdem möglich, Vokabeln nicht pauken zu müssen, sondern die Buchseiten im Schulbus mit den Augen zu scannen und das Gewünschte dann bis zum Unterricht komplett parat zu haben, wie ein Bild. Die Geschichtslehrerin, eine promovierte ältere Dame mit Klumpfuß, geriet regelmäßig in Rage, weil es für dieses oberflächliche kleine Luder bequemer war, drei Seiten aus dem Lehrbuch auswendig aufzusagen als die Schlacht bei den Thermopylen in eigenen Worten darzustellen. „Barbara Brinkmann“, herrschte die Historikerin ihre Schülerin an, „du sollst mir nicht erzählen, was im Buch steht, sondern was passiert ist!“
Nicht dass Inhalte Barbara grundsätzlich nicht interessiert hätten. Im Gegenteil: Wenn sie im Deutsch-Unterricht ihre Reclam-Heftchen hervorholten, um mit verteilten Rollen die Jungfrau von Orléans zu lesen, dann war Barbara glücklich, wenn sie von ihrem Klassenlehrer, einem leise sprechenden, aber innerlich glühenden Liebhaber der Weimarer Klassik, die Rolle der Jeanne d’Arc zugeteilt bekam. Ach, wie sie die Aufgabe als eine Art höhere Weihe annahm und in ihr aufging! Die Klassenkameradinnen schwankten zwischen Befremden, Bewunderung und Erleichterung – Befremden, weil sie die „Brink“ für durchgeknallt hielten, Erleichterung, weil ihnen die peinlichsten Rollen auf diese Weise erspart blieben, und Bewunderung, weil sie hier Zeuge wurden, wie ein sonst eigentlich ganz normales Mädchen Schillers Sprache herunterlas, als wäre sie Alltagsdeutsch.
Barbara liebte die gebundene Sprache und ihr wurde ganz wohl, als sie entdeckte, wie unendlich viele wunderbare Wendungen der Alltagssprache allein Goethes Faust entstammten. Was für eine Fundgrube! So herrlich waren viele der Formulierungen, so treffend, so leicht über die Zunge ins Freie perlend, dass ihnen im Laufe der Jahre Flügel gewachsen waren! Eines von Barbaras Lieblingsbüchern, abgegriffen, zerlesen und mit hundert handschriftlichen Anmerkungen versehen, war deshalb Georg Büchmanns „Geflügelte Worte und Zitatenschatz“.
Auch Wörter auf Wanderschaft zwischen den Sprachen konnten sie in Entzücken versetzen. Da interessierte sie sich auf einmal auch für historische Zusammenhänge. Wenn ihre Oma zum Beispiel sagte: „Mach’ keine Fisimatenten!“ und man vermuten durfte, dass diesen Spruch kein Deutscher erfunden hatte, spürte sie pures Entdeckerglück, wenn sie auf den französischen Ursprung stieß: Es hieß, Napoleons Soldaten hätten versucht, die Mädchen im Rheinland und in Westfalen, vermutlich aber eher die munteren rheinischen, mit dem Lockruf Visitez ma tente! in ihre Zelte zu locken.
Eine fast sentimentale Hinwendung hatte Barbara zu den aussterbenden Wörtern. Sie nutzte sie, so oft es ging – so wie man mit dementen Menschen, so lange die Situation es zulässt, noch normal redet –, und sagte dann bei einer Diskussion im Deutsch-Unterricht so etwas wie „Das ist doch müßig.“ „Müßig!“ echote dann der Klassenclown, den es in weiblicher Form auch in Barbaras Klasse gab, während die Mitschülerinnen Barbara anschauten wie die Biologielehrerin ein bizarres Insekt, „müßig!“ – „Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt“, sagte darauf der Deutschlehrer, der die Liebe zu den aussterbenden Wörtern teilte.
Das Sterben war ja insgesamt ein Vorgang, der – wie alle Vorgänge, über die nicht gern gesprochen wird – eine gewisse Faszination ausübte, und er wurde besonders interessant, wenn man hörte, welche Worte sprachmächtige Menschen in ihrer letzten Stunde gesprochen hatten. Völlig begeistert stieß Barbara eines Tages auf ein Buch mit „Letzten Worten“. Ihr Liebling darin war Heinrich Heine, der auf seiner Pariser Matratzengruft gesagt haben soll: Dieu me pardonnera; c’est son métier, Gott wird mir verzeihen; das ist sein Beruf. Das war besonders schön, weil man ja, wie Barbara wusste, eigentlich spätestens in dieser Situation seine Sünden zu bereuen hatte.
Besonders liebte Barbara Gedichte. Sie mussten sich nicht unbedingt reimen. Hölderlins Zeilen „Weh mir, wo nehm’ ich, wenn es Winter wird, die Blumen“ brachten sie zum Weinen, Heine bewunderte sie für sein Fräulein am Meere, das so lang und bang seufzte, weil der Sonnenuntergang es so sehr schmerzte, Shakespeare verehrte sie für die Perfektion seiner Sonette. Sie sammelte auch Schüttelreime und Limericks und schrieb auch selbst welche. Wenn sie das Programm von WDR 3 liebte, dann auch deshalb, weil sie ihm eines der schönsten Fundstücke ihrer Schüttelreim-Sammlung verdankte:
Das Zimmer sich mit Helle füllt; die Dame sich in Felle hüllt. Und wenn dann erst die Hülle fällt, ist nichts mehr, was die Fülle hält.
Wilhelm Busch, dessen gesammelte Werke im Wohnzimmer ihrer Eltern standen, kannte Barbara auswendig. Ein Leben lang dienten seine treffsicheren, geistreichen Alltagsbeobachtungen ihr als stets verfügbarer Fundus für spontane Tischreden, wenn etwa eine Feier zu langweilig zu werden drohte – was bei Familienfeiern die Regel war. So zitierte sie bei der Konfirmation eines Patenkindes ein paar Zeilen aus der Frommen Helene:
Helene, sprach der Onkel Nolte, was ich schon immer sagen wollte: Ich warne dich als Mensch und Christ. O hüte dich vor allem Bösen!
Es macht Genuss, wenn man es ist.
Es macht Verdruss, wenn man’s gewesen.
Manchmal kopierte Barbara diese kecke Art, Verse zu schmieden. Jahre später, in der „Gesellschaft“ angekommen, liebte sie es, förmlichen Einladungen den heiligen Ernst zu nehmen, indem sie ihrem Präsent eine freche kleine Widmung beilegte. Kurios gereimt konnte man ja manches sagen, was in Prosa verletzend wäre – ähnlich wie ein Fluch im Dialekt akzeptabler war als einer auf Hochdeutsch. Über das bayerische „Ssaupreiss, japanischer!“ konnten die Leute lachen, über „Sie blödes Schlitzauge“ weniger.
Barbaras Eltern waren Mitglied im Bertelsmann-Buchclub, und das war ein Segen: Meist überließen sie es der Tochter, ein Buch aus dem neuen Katalog auszusuchen, weil man sonst das von der Redaktion vorgeschlagene zugeschickt bekam. Barbara spürte, dass die Eltern ihren Kindern zuliebe das Geld für die Mitgliedschaft im Buch- und auch im Schallplattenclub aufbrachten: Sie und ihr Bruder sollten „es einmal besser haben“, und dazu – das war den Eltern bewusst – kam es auf Bildung an.
Manchmal dachte Barbara, was wohl aus ihren Eltern geworden wäre, wenn sie zu einer anderen Zeit aufgewachsen wären, wenn sie Abitur hätten machen und studieren dürfen. Und sie war sich der Verpflichtung bewusst, die sich aus der Gnade der Geburt zu einem günstigeren Zeitpunkt ergab – nach einem verheerenden Krieg und nach den Hungerwintern, mitten in das Wirtschaftswunder hinein. Da durfte man die Eltern nicht enttäuschen.
So bescheiden die Brinkmanns auch lebten, mit Vater Rudolf als „mittlerem Beamten“, so sehr musste man die Einstellung der Familie, was die Bedeutung der Bildung anging, doch als elitär bezeichnen. Mutter Hildegard, die nur ungern verkürzt als „Hilde“ angesprochen wurde, war da so ganz anders als ihre jüngere Schwester Helga, die alles verfügbare Geld für Kleider ausgab und ihre kleine Tochter