Die Taube auf dem Dach. Dagmar Gaßdorf
sportbegeistert war sie keineswegs. Zwar hatte man möglichst auch im Fach Sport keine schlechtere Zeugnisnote als zwei zu haben; aber Sport im Sinne von Reiten, Tennis, Segeln und dergleichen gehörte in ihrer Familie in die Kategorie „unnötiger Luxus“.
Eigentlich waren Studenten im Ruhrgebiet von Anfang an Außenseiter. Wo es eine akademische Tradition gegeben hatte wie in Duisburg, war sie der Industrialisierung zum Opfer gefallen. Die Kette des Kanzlers der Mercator Universität war nach Bonn abhanden gekommen, und die neuzeitliche Konstruktion Universität Duisburg-Essen war von Anfang an ein zweigeteilter Fremdkörper in Städten ohne studentisches Flair. Als Barbara von ihrem späteren Mann hörte, er habe seine Doktorarbeit in Köln in einer Kneipe geschrieben und er und seine Kommilitonen hätten das Lokal immer erst verlassen, wenn der Wirt dicht machte, kam Barbara das vor wie ein Bericht von einem anderen Stern.
Selbst der Rektor der Bochumer Universität, von den Studenten so kurz wie ruppig RUB genannt, war auf seine Art ein Außenseiter – als nicht nur für seine eigene Partei, sondern für die politischen Parteien jener Tage insgesamt, viel zu eigenständiger Kopf. Ausgestattet mit dem seltenen Talent der Selbstironie scherzte er über sein späteres Intermezzo als Industrie-Vorstand, er sei der teuerste Lehrling, den das Unternehmen je hatte.
„Schuld an allem sind doch nur die 68er.“ So lautete eine der Lieblingssentenzen eines wesentlich älteren Mannes aus der Generation dieses Rektors, den Barbara später heiraten sollte. Das war halb ernst und halb wohlwollend gemeint, ließ sie aber stets an ihren Studienbeginn an der RUB denken. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund lag da bereits in den letzten Zügen. Aber Barbara hätte sich ohnehin weder von ihm noch gar vom Spartacus einfangen lassen, aber ebenso wenig vom Ring Christlich-Demokratischer Studenten.
Einmal, ermuntert durch ihre Kommilitonin Uta, die sie schon aus der Schule kannte und die nach dem Germanistik-Studium Dramaturgin werden wollte, war Barbara bei einer „linken“ Versammlung gewesen. Uta holte sich dort offensichtlich das ideologische Rüstzeug für ihre spätere Theater-Tätigkeit; aber Barbara fand die gestanzten Phrasen nur lächerlich.
Sie wunderte sich dann nicht zu hören, dass die Bauarbeiter unten im Lottental, zu denen die Linken zogen, um sich mit ihnen gegen Gott und die Welt zu verbünden, es vorzogen, die Studenten vom RUB-Hügel zu verprügeln.
Die eigene Wohnung
Jetzt bist du so oft umgezogen, wann bist du endlich mal zu Haus? Du hast uns immer angelogen: Angeblich musstest du jedes Mal raus!
Mal fehlte dir die Abendsonne, dann wurd’ dir der Verkehr zu laut, Dann fingen die Nachbarn an zu fiedeln, Es hieß, du hieltest es nicht mehr aus.
Jetzt haben sie vis-à-vis gebaut, und es lockte dich sowieso das Land, doch dort hat der Nachbar dir reingeschaut. Du sagst, er sei sehr penetrant.
Wir haben nun aufgehört zu zählen.
Es ist ja dein Geld, das du versenkst. Nur eines kannst du uns nicht erzählen: dass du dir nur so neues Leben schenkst.
Man ist und bleibt doch das alte Ich.
Man hat es an allen Orten dabei.
Als Schatten lässt es uns niemals im Stich, ob im Süden, im Norden, der Mongolei.
Du kannst es uns glauben: Selbst wenn du einst tot – du bist und bleibst derselbe Idiot!
Gelegentlich schrieb Barbara Verse, nichts Besonderes, Gelegenheitsverse – mal, um ein Geschenk interessanter zu machen, mal, weil sie einfach Freude an dem Einfall hatte, manchmal aber auch, weil Gedanken, die man in eine gefällige Form gebracht hat, zu unerwartet hilfreichen Erkenntnissen mutieren können. In diese dritte Kategorie fiel das Gedicht, das sie bei ihrem vierten Umzug nach dem Tod ihres zweiten Mannes schrieb. Aber so weit sind wir noch nicht. Der erste Umzug, den Barbara aus eigenem Entschluss absolvierte, war das Verlassen des Elternhauses gleich nach dem Abitur.
Es war ein Einser-Abitur, mit Spitzennoten selbst in Fächern, die Barbara überhaupt nicht interessierten – Mathematik zum Beispiel. Da hatte sie lediglich den Kurvendiskussionen etwas abgewinnen können; die hatten wenigstens etwas halbwegs Sinnliches. Ihr Leben lang sollte es Barbaras Vorstellungskraft übersteigen, wie jemand Lust am peniblen Rechnen haben kann, ein Steuerberater zum Beispiel oder ein Wirtschaftsprüfer. Angesichts dieses ausgeprägten Desinteresses an Zahlen grenzte es an ein Wunder, dass aus dieser merkwürdigen jungen Frau eine erfolgreiche Unternehmerin werden sollte. Möglicherweise lag es daran, dass der mangelnde Sinn für Rechenoperationen bei ihr kompensiert wurde durch ein gutes Bauchgefühl dafür, ob eine Zahl der Höhe nach und grundsätzlich stimmen konnte.
Trotz der geschilderten Behinderung, die mit Zahlen-Legasthenie übertrieben, mit geringem Talent zum Kopfrechnen aber korrekt beschrieben wäre, machte Barbara das beste Abitur ihres Jahrgangs. Es fiel ihr folglich die Aufgabe zu, die obligatorische Dankesrede zu halten: Die Schule, die Lehrer und nicht zuletzt die Eltern hatten gelobt zu werden.
Barbara tat das, wie man etwas tut, was eben getan werden muss: Müll in die Mülltonne bringen zum Beispiel. Das gehörte sich so, es wurde erwartet. Und anerkannt, geschätzt und geliebt wurde man nur, wenn man tat, was erwartet wurde. Den einzigen Protest, eigentlich eher den Hauch eines Protestes, in der Situation „erwartete Lobrede bei der Abschlussfeier des Gymnasiums“ leistete sie sich dadurch, dass sie sich ein weißes Kleid kaufte, während alle anderen Mädchen im „kleinen Schwarzen“ erschienen. Das Geld dafür hatte sie sich schließlich durch Nachhilfestunden selbst verdient; da hatte sie auch das Recht, selbst zu bestimmen, welche Farbe es hatte. Nicht, dass Geld als solches Barbara interessiert hätte; das einzige, was sie an Geld interessierte, war die Freiheit, die es einem schenkte, wenn man genügend davon hatte.
Das Abiturkleid war ärmellos und hatte eine geprägte Oberfläche: Aus dem flach gewebten Stoff erhoben sich, einem nicht auf Anhieb erkennbaren Rapport folgend, weiche, aus einem glänzenderen Garn gewirkte Rosen. Das sah kostbar aus und erinnerte an Bilder von reichen Renaissance-Bürgern, die oft Umhänge aus so ausdrucksvollen Stoffen trugen. Das kurze Jäckchen war aus demselben Material und so weiß wie das Kleid. Es war schließlich nicht einzusehen, warum man bei einem freudigen Anlass in Schwarz gehen sollte.
Neben Barbara in der ersten Reihe der für den Anlass mit Blumen geschmückten Aula, die sonst vor allem für Chor- und Orchesterproben genutzt wurde, saß der Klassenlehrer im dunkelblauen Anzug, neben diesem wiederum die Tochter eines Lehrerkollegen im obligaten kleinen Schwarzen. Neben deren Gesicht wippten Korkenzieherlöckchen, die von Annette von Droste-Hülshoff hätten sein können. Offenbar hatte die Mutter, eine in Lehrerfrauen-Kreisen gefürchtete Frau von Walküren-Statur, am Friseur für die Tochter nicht gespart.
Barbaras Frisur hatte es zum Nulltarif gegeben: Den kinnlangen Pagenschnitt verdankte sie der einzigen von Hildegard Brinkmann geduzten Nachbarin Doris. Die hatte eine Kopftopf-Technik entwickelt, die sie erfolgreich auch an der eigenen Tochter praktizierte: einfach den Topf über den Kopf stülpen und unten ringsherum schneiden. So kam es, dass Barbara auf allen Fotos von der Abiturfeier, nicht nur denen, die sie stehend am Rednerpult zeigten, aus ihrer Umgebung deutlich herausstach – wegen ihres weißen Kleides und wegen ihres scharfkantigen blonden Pagenkopfes.
Bei dem Auftritt in der Schul-Aula hatte es sich um eine eher gemäßigte Form der Revolution gehandelt. Ein deutlicheres Zeichen des Protests gegen das Erwartungsschema war der Umzug in eine eigene Wohnung unmittelbar nach dem Abitur. Ja, man hätte diesen ersten selbst gewählten Umzug womöglich für eine frühe Form grünen Protests halten können, wäre die gefundene Bleibe nicht wegen fehlenden Fließwassers und einer archaischen Toilette hinter dem Haus, vulgo „Plumpsklo“, das billigste Quartier gewesen, das man im Einzugsbereich der Ruhr-Universität finden konnte. Die Wohnung befand sich unter dem Dach einer alten Kate auf einem Höhenzug außerhalb der Stadt. Eigentümerin