Lass Dir nicht alles gefallen. Rolf Merkle

Lass Dir nicht alles gefallen - Rolf Merkle


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ohne unsere Eltern zu überleben? Nein! In den ersten Jahren sind wir in hohem Maße von unseren Eltern abhängig. Wir wissen in diesem Alter instinktiv, dass wir unsere Eltern brauchen, um leben, ja, überleben zu können. Nichts ist für uns schrecklicher gewesen als die Androhung unserer Eltern, sie würden uns nicht mehr lieb haben. Nichts versetzte uns mehr in Angst als die Drohung, sich von uns abzuwenden. Jeden strafenden Blick und jede Zurechtweisung empfanden wir damals als Gefahr, als eine „tödliche“ Gefahr. Diese Hilflosigkeit und Unselbständigkeit machten sich unsere Eltern zunutze – in der besten Absicht, aber leider zu unserem Nachteil. Sie machten ihre Liebe zu uns von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig. Vielleicht hast du dir in deiner Kindheit oft anhören müssen: „Ich mag dich nicht, wenn du so unartig bist.“, „Solange du dir deine Haare nicht schneiden lässt, bist du bei mir unten durch.“, „Ich habe dich lieb, wenn du deine Schulaufgaben machst.“

      Durch solche Worte entwickeln wir die Einstellung: „Nur wenn ich so bin, wie andere mich haben wollen, dann bin ich liebenswert und bekomme deren Liebe und Anerkennung. Tue ich, was ich möchte, dann muss ich Angst haben, dass das den anderen nicht gefällt. Und wenn den anderen nicht gefällt, was ich mache, dann lassen sie mich vielleicht im Stich, und das wäre mein Ende.“ Was blieb uns anderes übrig, als brav zu sein, wenn wir nicht die Liebe unserer Eltern verlieren wollten? Wir hatten keine andere Wahl, als ein braver Junge oder ein liebes Mädchen zu sein. Nun sollte man meinen, dass sich die Angst, verlassen oder nicht mehr gemocht zu werden, verliert, wenn wir älter werden. Denn schließlich sind wir als Erwachsene in der Lage, für uns selbst zu sorgen. Wir sind anderen nicht mehr auf Gedeih und Verderben ausgeliefert.

      Doch weit gefehlt. Das Kind von damals und seine Ängste wohnen immer noch in uns. Wir tragen immer noch die Zwangsjacke des Nett-Sein-Müssens und Andere-Nicht-Enttäuschen-Dürfens und trauen uns nicht, sie auszuziehen. Wir tun vieles nur, um andere zufriedenzustellen und bei diesen anzukommen.

      Tun wir, was wir möchten und für richtig halten, und jemand sagt uns, wir seien egoistisch, dann haben wir Schuldgefühle und fühlen uns wie ein Schwerverbrecher. Dies war jedoch nicht die einzige Lektion, die uns unsere Eltern – wohlgemerkt in den besten Absichten – verpassten.

      Eine andere Lektion bestand darin, uns auf persönliche Weise auf unsere Fehler und Schwächen aufmerksam zu machen und uns mehr zu tadeln, als zu loben. Weisst du, wie häufig du vermutlich bis zum Alter von fünf Jahren im Durchschnitt getadelt wurdest? Ein Psychologe hat errechnet, dass Kinder bis zum fünften Lebensjahr häufig schon mehr als 40.000 mal getadelt wurden! Das bedeutet: Ein Kind, das bis zum Alter von fünf Jahren 40.000 mal getadelt wurde, wurde im Monat im Durchschnitt ca. 666 mal und pro Tag 22 mal getadelt.

      Wen wundert es da, wenn wir als Erwachsene unsicher und voller Selbstzweifel sind? Wenn wir häufig kritisiert werden, und das in einer so verletzenden Art und Weise wie „Taugenichts“, „Idiot“, „Versager“, „Dumme Gans“ usw., dann werden unser Selbstvertrauen und unser Selbstwertgefühl stark in Mitleidenschaft gezogen. Wir lernen, an uns zu zweifeln, und entwickeln in Folge davon Ängste und Hemmungen. Damit nicht genug. Unsere Eltern, Lehrer und die anderen Erwachsenen gaben uns eine Menge Verhaltensregeln mit auf den Weg, die es – unter Androhung von Liebesentzug – galt, einzuhalten, und die heute dazu beitragen, dass wir Angst vor Ablehnung haben.

       Hier einige dieser Regeln:

      Das schickt sich nicht für ein Mädchen / einen Jungen.

      Geben ist seliger denn Nehmen.

      Verscherze es dir nicht mit anderen.

      Sei höflich und zuvorkommend.

      Rede nicht, bevor du gefragt wirst.

      Man kann nicht immer, wie man will.

      Man muss oft gute Miene zum bösen Spiel machen.

      Untersteh dich, so mit mir zu sprechen.

       Was sollen die Nachbarn denken?

      Ein Junge weint nicht.

      Das gehört sich nicht.

      Schäm dich, deiner Mutter so wehzutun.

       Du bringst mich noch ins Grab mit deiner ewigen …

      Lass niemand merken, wie es in dir aussieht.

      Nimm dich nicht so wichtig.

      Neben diesen Einflüssen können auch Erfahrungen mit Gleichaltrigen dazu beitragen, dass wir Hemmungen entwickeln.

      Wenn ein Junge zum Beispiel eine sehr starke Brille trägt, dicklich oder schmächtig ist, wenn der Vater arbeitslos ist, dann kann es leicht passieren, dass seine Mitschüler ihn hänseln, mobben und aus ihrer Clique ausschließen. Schließlich färbt unsicheres Verhalten der Eltern auch auf die Kinder ab. Wenn eine Mutter schüchtern und gehemmt ist, dann wird sich das Kind viele Denk- und Verhaltensweisen bei ihr abschauen und diese übernehmen.

      Nicht verschweigen möchte ich, dass wir alle mit einem angeborenen Angstlevel auf die Welt kommen. Ursache hierfür sind Erfahrungen im Mutterleib. Stand unsere Mutter längere Zeit unter Stress und Angst, hatte sie traumatische Erfahrungen während der Schwangerschaft, dann wirkt sich das auf das Nervenkostüm des Kindes aus. In diesem Fall fällt es schwerer, sein Selbstbewusstsein zu stärken und aufzubauen. Unmöglich ist es nicht – aber eine gewisse Ängstlichkeit wird immer bleiben.

       Warum sind wir seelisch auf der Entwicklungsstufe eines Kleinkindes stehengeblieben?

      Der Grund dafür ist, dass wir es versäumt haben, dem kleinen Jungen oder Mädchen in uns klarzumachen, dass wir erwachsen sind. Wir haben ihm keine Chance gegeben zu wachsen. Stattdessen haben wir alles getan, damit er/es sich nicht entwickeln konnte. Nachdem unsere Eltern uns bewusst und unbewusst immer wieder belehrt und kritisiert hatten, haben wir deren Urteil über unsere Person übernommen und haben fortan so zu uns gesprochen wie einst unsere Eltern. Wir haben uns selbst die verletzenden und abwertenden Worte an den Kopf geworfen, die wir von unseren Eltern immer wieder hörten. Wir haben das Kind in uns durch negative und selbstabwertende Selbstgespräche kleingehalten.

      So wie unsere Eltern durch ihre negativen Worte verhinderten, dass wir Vertrauen in uns und unsere Fähigkeiten bekommen konnten, so verhindern wir heute durch Selbstvorwürfe und Selbstkritik, dass unser Selbstvertrauen wachsen kann.

      Sind wir ängstlich und gehemmt, dann beschimpfen wir uns mit Worten wie Schlappschwanz, Feigling, Armleuchter und Angsthase, anstatt uns quasi in den Arm zu nehmen und uns Mut zu machen. Statt das kleine und schüchterne Mädchen zu bestärken und ihm zu sagen, dass es nicht tragisch ist, wenn es Angst hat, schüchtern wir es noch mehr ein. Wie sollen das kleine Mädchen oder der kleine Junge so jemals stark und selbstbewusst werden?

       Hemmungen aufgrund von Hemmungen

      Wenn wir uns für Fehler und Schwächen ablehnen, dann fühlen wir uns minderwertig und sind gehemmt. Nun neigen unsichere Menschen dazu, auch ihre Unsicherheit als einen großen Makel anzusehen, für den sie sich ablehnen. Die Folge ist: Sie sind noch verunsicherter und leben ständig in der Angst, andere könnten ihre Unsicherheit entdecken. In diesem Teufelskreis, der dazu führt, dass die Selbstachtung immer mehr sinkt, drehen sich viele unsichere Menschen.

      Annelie, eine 45-jährige Patientin, hat enorme Probleme, auf andere Menschen zuzugehen, und sei es nur, diese auf der Straße nach einem Geschäft oder einer Straße zu fragen.

      Auch Annelie findet es ziemlich blöd von sich, dass sie solche Hemmungen hat, und schämt sich dafür. Gleichzeitig ärgert sie sich unheimlich über sich, dass sie so ein Angsthase ist und es nicht fertigbringt, so etwas „Banales und Alltägliches“ zu tun, wie jemanden nach einem Geschäft zu fragen.

      Annelie hat also nicht nur das Problem, dass sie Hemmungen hat, sie hat noch


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