Kinderärztin Dr. Martens Classic 3 – Arztroman. Britta Frey
eine Stunde, bis der Briefträger durch ist, danach werde ich mit Inka zum Chef von Birger fahren, ging es ihr durch den Kopf. Als sie für ihre Jüngste das Frühstücksbrot gestrichen und die Milch auf den Herd gestellt hatte, schlug die Klingel an der Wohnungstür an.
Erschrocken verstummte Ute und starrte auf den Mann, der vor ihr stand.
»Herr Iversen, Sie …« Es war Birgers Chef persönlich. Ute hatte ihn einmal bei einem Betriebsausflug kennengelernt. Das Gesicht des Mannes war sehr ernst, und Ute hatte mit einem Mal das Gefühl, als würde eine eiserne Faust ihr Herz zusammenpressen. Da sagte der hochgewachsene Mann: »Sie kennen mich noch, Frau Deiter? Darf ich einen Augenblick eintreten?«
»Selbstverständlich, Herr Iversen, bitte treten Sie ein.«
Ute führte Birgers Chef ins Wohnzimmer und bot ihm einen Platz an. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber. Alles in ihr war mit einem Mal voller Abwehr. Sie fühlte, dass dieser Mann ihr nichts Gutes brachte. Trotzdem fragte sie mit belegter Stimme: »Was führt Sie so früh am Morgen schon hierher, Herr Iversen?«
»Sie müssen jetzt sehr tapfer sein, Frau Deiter. Es tut mir unendlich leid, aber ich bringe Ihnen keine guten Nachrichten. Ich wollte keinen anderen mit dieser Aufgabe betrauen, darum komme ich persönlich zu Ihnen.«
»Was ist passiert, es ist doch etwas mit meinem Mann, Herr Iversen, nicht wahr? Bitte quälen Sie mich nicht, sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Ja, es ist etwas mit Ihrem Mann, Frau Deiter. Zwei unserer Mitarbeiter gerieten in Oran während einer Demonstration per Zufall zwischen zwei gegnerische Gruppen und sind dabei ums Leben gekommen. Einer von diesen beiden Männern war Ihr Mann. Wir haben erst gestern am späten Abend die traurige Nachricht bekommen, da man bald zwei Wochen nach den beiden als vermisst geltenden Personen geforscht hat. Es tut mir so leid, dass gerade ich Ihnen diese schlimme Nachricht überbringen muss.«
»Nein, nein, nein! Sagen Sie mir, dass es nicht wahr ist! Sie lügen! Birger ist nicht tot, er muss leben, ich brauche ihn doch!«
Fast hysterisch schrie Ute in ihrer inneren Not den mit blassem Gesicht vor ihr sitzenden Mann an. Sie selber war aufgesprungen und starrte ihn voller Feindseligkeit an. Noch hatte sie nicht richtig begriffen, was dieser Mann da gerade gesagt hatte. Es war für sie zu ungeheuerlich.
»Ich lüge Sie nicht an, Frau Deiter. Bitte, Sie dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Ich kann Ihnen nur meine tiefe Betroffenheit versichern. Selbstverständlich übernehmen wir alles, was jetzt zu tun ist. Sie brauchen sich um keine Formalitäten kümmern. Auch Ihre finanzielle Sicherheit kann ich Ihnen garantieren.«
»Geld? Sicherheit? Ich will meinen Mann, den Vater meiner Kinder, meiner Mädchen! Sie …, Sie ganz allein sind daran schuld. Sie …, Sie haben mir meinen Mann genommen!«
Utes schmale Gestalt begann zu wanken, aber sofort war Georg Iversen an ihrer Seite und hielt sie fest, damit es nicht zu einem Sturz kommen konnte, dann drückte er sie mit sanfter Gewalt in einen Sessel und wollte mitfühlend wissen: »Kann ich noch etwas für Sie tun? Gibt es einen Menschen, dem ich Bescheid sagen kann, damit er Ihnen zur Seite steht?«
»Es ist also wirklich wahr, ich habe meinen Mann für immer verloren?«, kam es mit tonloser Stimme über Utes Lippen. Ihre Augen wirkten wie erloschen.
»Kann ich wirklich nichts für Sie tun, Frau Deiter?«
»Gehen Sie, so gehen Sie und lassen Sie mich endlich allein.«
»Aber ich …«
»Gehen Sie doch endlich, ich will niemanden sehen!« Die letzten Worte schrie Ute förmlich in ihrem inneren, tiefen Schmerz heraus.
»Mutti, was ist denn? Ist der Onkel böse?«
Eine ängstliche Kinderstimme kam plötzlich von der Tür her.
Mit übermenschlicher Kraft nahm Ute sich zusammen.
»Komm zur Mutti, Schätzchen. Der Onkel ist nicht böse, er geht jetzt auch wieder fort.«
Im Nachthemdchen kam die Fünfjährige zu Ute gelaufen und schmiegte sich schutzsuchend in deren Arme.
»Sie hören dann wieder von uns, wenn alles Notwendige veranlasst worden ist, Frau Deiter. Sollte jemand noch Fragen haben, wir stehen jederzeit zur Verfügung. Und noch einmal mein tiefstes Beileid zu Ihrem herben Verlust.«
Georg Iversen warf noch einen zögernden Blick in Utes wachsbleiches Gesicht, denn wandte er sich ab und verließ die Wohnung.
Für Ute Deiter, die sich mit letzter Kraft aufrecht hielt, war in diesen Minuten eine ganze Welt zusammengebrochen.
»Mutti, so hör doch endlich, ich habe Hunger.«
Wie erwachend sah Ute auf ihr kleines Mädelchen. Mit bebender Stimme sagte sie dann: »Geh in die Küche, ich habe dir schon ein Butterbrot gemacht. Ich muss nur noch rasch die Oma anrufen, dann komme ich auch zu dir. Geh und sei ein liebes Schätzchen.«
Mit zögernden Schritten ging die Kleine aus dem Wohnzimmer. Sie begriff nicht, warum die Mutti auf einmal so komisch war, so ganz anders als sonst.
Ute aber wankte zum Telefon und wählte mit zitternden Fingern die Nummer der Schwiegermutter.
»Hier Deiter«, hörte sie vom anderen Ende der Leitung die vertraute Stimme. Da war es endgültig mit ihrer Fassung vorbei. Heftig schluchzend, immer wider stockend, kam es von ihren Lippen: »Hier ist Ute, Mutter. Bitte, komm sofort, es ist etwas Schreckliches passiert. Birger, er ist … Bitte, komm, so schnell du kannst, auch wenn du dir ein Taxi nehmen musst.«
»Ich komme, aber was um Himmels willen ist los, Mädel? Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.«
Ute war nicht fähig, noch etwas zu sagen, und legte den Hörer einfach auf die Gabel zurück. Ein paar Augenblicke starrte sie noch auf den Telefonapparat. Mit schleppenden Schritten, sich zur Ruhe zwingend, ging sie danach zu ihrer Kleinen in die Küche. Es ging fast über ihre Kraft, sich jetzt neben Inka an den Frühstückstisch zu setzen und halbwegs die Fassung zu bewahren. Um der Kleinen willen durfte sie sich nicht gehen lassen.
*
Eine Viertelstunde später befand sich Cora Deiter schon auf dem Weg nach Lüneburg.
Während der Fahrt zermarterte sie sich ihren Kopf, was Ute ihr wohl hatte sagen wollen. Was konnte mit Birger sein? War er krank, oder hatte er vielleicht sogar einen Unfall gehabt und war dabei verletzt worden? Ihr selber unbewusst kam ein tiefer Seufzer über ihre Lippen.
Endlich waren sie am Ziel angelangt. Cora Deiter bezahlte und blieb einen Moment stehen, bis das Taxi sich entfernt hatte. Mit zitternden Knien, in der Rechten ihren kleinen Koffer und ihre Handtasche, ging sie auf das Haus zu. Da in diesem Augenblick ein Bewohner aus dem Haus trat, gelangte sie ohne zu klingeln hinauf bis vor die Wohnungstür ihres Sohnes. Sie musste sich einen innerlichen Ruck geben, als sie auf die Klingel drückte, denn wieder spürte sie ein Gefühl drohenden Unheils.
Während innen die Türglocke anschlug, begann ihr Herz heftig zu pochen, und ihre innere Anspannung steigerte sich.
Müde Schritte näherten sich der Tür, und mit einer Stimme, die sehr fremd klang, hörte Cora Deiter Ute fragen: »Wer ist da?«
»Mach auf, Ute, ich bin es, Mutter.«
Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und ehe sich Cora Deiter versah, fiel ihr Ute schluchzend um den Hals und stammelte mit versagender Stimme: »Mutter, oh, Mutter, endlich. Mutter, hilf mir.«
»Um Himmels willen, Ute, Kind, so beruhige dich doch. Du bist ja völlig fertig. Was ist denn nur geschehen?«
Sanft schob Cora Deiter Ute von sich und schob die Tür hinter sich zu. Achtlos stellte sie ihren Koffer an die Garderobe und hängte ihre Handtasche an einen Haken. Danach hakte sie Ute unter, die sie mit erloschenen Blicken anstarrte.
»Komm, gehen wir ins Wohnzimmer, Ute, dann erzählst du mir alles«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. Sie zog Ute ins Wohnzimmer und drückte sie mit sanfter