Sex and Crime. Klaus Püschel
dann alle Schranken. Grenzen verschwimmen, Übergänge zu einem normalen und unauffälligen Leben sind fließend. Vieles spielt sich in Grauzonen ab oder auch im Dunkeln oder, bezogen auf das Internet, im sogenannten Darknet. Extreme Ausbrüche und Grenzüberschreitungen sind immerhin (noch) vergleichsweise selten.
Aber: Sie verschwinden nie ganz. Vielleicht nehmen sie sogar zu. Es gibt sie, auch in scheinbar idyllischen Umgebungen auf dem Land oder in kleinen Dörfern. Über das Internet erreichen Missbrauchsmöglichkeiten die Menschen überall.
Die alltägliche Arbeit in der Rechtsmedizin geht heute ganz erheblich und überproportional mit der Untersuchung, Aufklärung und Beurteilung von Fällen einher, die von sexuellen Motiven und Übergriffen gekennzeichnet sind. Gesetzesüberschreitungen und Motivlagen, bei denen sexuelle Aspekte eine zentrale oder zumindest mitbestimmende Rolle spielen, betreffen einen großen Teil der rechtsmedizinischen Routine: zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch von Kindern, Nötigung, Vergewaltigung, Unzucht mit Abhängigen, Pädophilie, Inzest, Homosexualität, (illegaler) Prostitution, sexueller Sklaverei, ritueller sexueller Gewalt, Menschenhandel, Sodomie, sexuell motivierten Verletzungen, Entführung, Tötungsdelikten, Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebs („Lustmord“), Serientaten, Kriegsvergewaltigungen.
In Zusammenhang mit Sexspielen und Sexualverbrechen gibt es alles, was im weiten Spektrum der Rechtsmedizin relevant ist. Es gibt alle möglichen Formen der Gewalt, der Ausübung von Zwang sowie der Beeinflussung durch Substanzen wie Alkohol und Drogen bis hin zu K.o.-Tropfen und Narkosemitteln. Weiterhin sind aufzuführen: (Selbst-)Verletzungen, Unfallmechanismen, Fremdkörper an allen möglichen Stellen des Körpers und in allen Körperöffnungen, Tätowierungen, Fixierung, Fesselung, Todesfälle, Tötungsdelikte, Leichenverstümmelung und -zerstückelung, Kannibalismus.
Sexuell motivierte Verbrechen haben stets eine kriminalistische, psychologische und medizinische Dimension. Art und Ausmaß der praktizierten Gewalteinwirkung sind bizarr und extrem. Sie richten sich bevorzugt auf die primären und sekundären Geschlechtsorgane, sind aber auch gekennzeichnet von Aspekten des Quälens, des Schmerzzufügens und der Machtausübung. Macht spielt im sexuellen Bereich eine bevorzugte Rolle. Insgesamt muss man bei Sexualverbrechen immer wieder feststellen: Die Täter nehmen keinerlei Rücksicht auf die Psyche des Opfers. Ob es leidet, ob es Schmerzen hat, ob es hilf- und wehrlos ist, spielt bei der Durchsetzung der sexuellen Fantasie anscheinend überhaupt keine Rolle. Das Opfer wird entpersonifiziert. Zuwendung oder Empathie sind bei einem solchen Täter nicht vorhanden. Betroffen sind Erwachsene, aber auch kleine Kinder ebenso wie Gebrechliche, Bewusstlose und sogar Tote. Für die Aufklärung ist bedeutsam, dass Sexualverbrechen manchmal vorgetäuscht werden, um eine eigentlich zugrunde liegende Motivation zu kaschieren und damit eine falsche Spur zu legen.
Wie Sex zur Triebfeder bei extremen Verbrechen werden kann, wie hinter scheinbar gutbürgerlichen Existenzen das Böse lauert, zeigen Verbrechen, die uns bis ins Mark erschüttern.
Für den Auftakt unserer neuen „True-Crime“-Buchreihe „Die Wahrheit ist der beste Krimi“ haben wir Fälle ausgewählt, die wir für besonders beeindruckend und in vielfältiger Hinsicht für exemplarisch halten beim Thema „Sex and Crime“. Sie zeigen das breite Spektrum der Verbrechen aus sexueller Motivation.
Über manche der Verbrechen ist in anderem Zusammenhang, auch von uns, schon geschrieben worden. In diesem Buch aber betrachten wir die einzelnen Taten, Täter und Opfer aus einem speziellen Blickwinkel: Hier stehen das abweichende Sexualverhalten sowie das bizarre Sexualverbrechen als zentrale Botschaft im Hinblick auf die Ursache von Kriminalität im Fokus.
Denn Sex bewegt die Welt. In jeder Hinsicht.
DAS BÖSE IST ÜBERALL
Für gläubige Menschen manifestierte sich das Böse jahrhundertelang in der Gestalt des Teufels und seiner Dämonen. Doch das Böse ist viel banaler — und auch raffinierter. Es kann überall nisten, hinter einem scheinbar freundlichen, zugewandten Blick, hinter den Gardinen eines vermeintlich gutbürgerlichen Hauses, hinter der Fassade eines Lebens, das solide und moralisch gefestigt erscheint. Irgendwo lauert das Bestialische, vielleicht gerade dort, wo wir es am allerwenigsten erwarten.
Und so kann jeder Opfer werden. Manchmal sucht sich der Täter aus seinem persönlichen Umfeld seine Opfer, um sie bei einer sich ihm bietenden Gelegenheit gezielt anzugreifen. Andere werden zum Opfer, weil sie zufällig den Weg eines Gewalttäters streifen, der auf eine Gelegenheit lauert, um seine Fantasien auszuleben.
Das Böse ist überall.
Es kann zum Beispiel daherkommen in der Person des Hans-Jürgen S. Der Mann ist ein 64 Jahre alter Maurer, der zusammen mit seiner 90-jährigen Mutter in einem Reihenhaus wohnt. Hierhin ist er nach der Trennung von seiner Frau, mit der er zwei Töchter hat, gezogen. Die Nachbarn beschreiben den Norddeutschen als „auffällig unauffällig“. Er ist bereits Großvater. Groß und stämmig ist er, mit gepflegten grauen Haaren und grauem Bart. Bilder von früher zeigen ihn mit wuscheligem vollem Schopf und einem dunklen Vollbart. Er spielte damals in einer Fußballmannschaft, galt aber eher als Einzelgänger.
Am 5. April 2011 nehmen Beamte der Mordkommission Kiel den Handwerker in Henstedt-Ulzburg fest: Hinter der gutbürgerlichen Fassade verbirgt sich ein Serienmörder. Auf seine Spur kommt die Mordkommission, als 2010 ein sogenannter Cold Case wieder aufgerollt wird. Es handelt sich um einen Mordfall aus dem Jahr 1984. Die achtzehn Jahre alte Schwesternschülerin Gabriele S. wurde vergewaltigt und dann mit ihrem eigenen Schal erdrosselt. Nun, sechsundzwanzig Jahre nach dem Mord, führt die Polizei DNA-Reihenuntersuchungen durch. Männer aus dem Umfeld des Opfers müssen Speichelproben abgeben, die mit DNA-Spuren vom Tatort abgeglichen werden. Dabei fällt den Experten des Landeskriminalamts eine Probe auf, die zwar nicht identisch ist mit jener vom Tatort. Doch die Spezialisten sind sich sicher, dass bei einem sehr nahen Verwandten der Treffer mit der hundertprozentigen Übereinstimmung zu finden sein wird. Und tatsächlich: Es war der Bruder. Dieser war bei der Polizei kein Unbekannter. Nach der Vergewaltigung einer Hamburger Prostituierten hatte er 1994 eine einjährige Bewährungsstrafe erhalten.
Nach seiner Festnahme gesteht Hans-Jürgen S. sehr schnell die Vergewaltigung und den Mord an Gabriele S. — und überrascht die Beamten, als er kurz danach vier weitere Verbrechen zu Protokoll gibt. Es sind Morde, die er zwischen 1969 und 1984 im Hamburger Norden und in Schleswig-Holstein begangen hat, auch sie aus sexueller Motivation. Er hatte seinen Zufallsopfern im Bereich von Bushaltestellen oder in der Nähe von Diskotheken aufgelauert. Zwei dieser Sexualmorde ereigneten sich 1969 in Hamburg-Langenhorn, die weiteren in den Jahren 1970 und 1972. Mit dem Verbrechen an Gabriele S. beging Hans-Jürgen S. dann schließlich seine letzte Tat.
Der Schleswig-Holsteiner ist nun endlich, zweiundvierzig Jahre nach seinem ersten und siebenundzwanzig Jahre nach seinem letzten Mord, gefasst. Dass er selbst nach wie vor unter hohem inneren Druck stand, ist daraus abzulesen, dass er nach seiner Festnahme alle weiteren Morde aus eigenem Antrieb berichtete. „Er wollte reinen Tisch machen“, sagt der Chef der Mordkommission. Über seine Anwälte lässt Hans-Jürgen S. später ausrichten, dass er die Zeit zwischen 1969 und 1984 nunmehr „als eine unfassbare Phase seines Lebens“ empfinde. Er sei inzwischen „ein anderer Mensch“ geworden.
„Es ist über mich gekommen. Ich habe die Kontrolle verloren.“ Dies sind seine Angaben in den Vernehmungen. Seinen ersten Mord beging er im Frust auf Frauen, von denen er immer Absagen kassiert habe. „Da hat das Mädchen dran glauben müssen“, sagt er lapidar über den ersten Fall von 1969. Später gab es Probleme in seiner Ehe, die ihn zu den nächsten Verbrechen trieben.
Der Richter beschreibt den zweifachen Vater und Großvater als einen Mann, der schon als Jugendlicher Frauen gegenüber unsicher war. Mit siebzehn Jahren entwickelte er dann sexuelle Gewaltfantasien. „Er träumte nachts im Halbschlaf, Mädchen mit Gewalt zu nehmen, und fühlte das wie einen Zwang“, sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung. „Dabei stellte er sich Situationen vor, in denen die Mädchen sich nicht wehren oder nicht schreien konnten.“ Die ersten vier Opfer hat Hans-Jürgen S. stranguliert. Zwei seiner Opfer aus dem Jahr 1969 wurden in der Hamburger Rechtsmedizin obduziert. Die