Sex and Crime. Klaus Püschel
Mediziner weiß, dass Chloroform zu Brechreiz führen kann und auf der Gesichtshaut ätzend wirkt. Auch kann es zu einer Reizung der Augen führen. Zudem ist ihm bewusst, dass das Narkotikum Atemstillstand und ein Aussetzen des Herzschlags bewirken kann. Es sind dies seltene Nebenwirkungen, aber sie kommen vor. Ob Andreas A. solche Komplikationen im Zweifelsfall beherrschen würde?
Doch darüber macht sich der Arzt keine Gedanken. Die Dunkelheit ist weiter seine Verbündete. Das Beuteschema von Andreas A. ist einfach gestrickt: Die Opfer müssen weiblich sein, jung — und in einer Erdgeschosswohnung oder in einem Haus mit Garten leben. Ein Ort also, der leicht einsehbar und für ihn ohne großen Aufwand zugänglich ist. Er ist ein sportlicher Typ und geschickt. Ein nicht vollständig verschlossenes Oberlicht oder ein auf Kipp stehendes Badezimmerfenster reichem ihm, um in das Zuhause seiner Opfer einzudringen.
Das erste Verbrechen begeht er Ende März 1990. Danach schlägt er wieder zu. Und wieder. Zunächst vergehen zwei Monate bis zur nächsten Tat, dann mehrere Wochen. Zu den letzten drei Überfällen kommt es innerhalb einer einzigen Oktoberwoche.
Im November wird der Täter gefasst und in Haft genommen. Kommissar Zufall kommt zu Hilfe. Offensichtlich hat er sich zu sicher gefühlt und ist leichtsinnig geworden. Sein Fehler: Er lungert vor einer Wohnung herum, in der er sich Monate zuvor schon ein Opfer gesucht hat, und wird wiedererkannt.
Die Verbrechen sind jeweils ähnlich abgelaufen. Über Stunden beobachtet Andreas A. jede Bewegung einer Frau in deren Wohnung. Wenn sie ins Bett geht und das Licht löscht, holt der Mediziner das Chloroform und mehrere Kordeln aus seinem Wagen. Heimlich dringt er durch das Fenster, das nicht vollständig verschlossen ist, in das Zimmer ein und geht an ihr Bett. Als das Opfer wach wird und den fremden Mann sieht, der eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hat und zusätzlich mit einem Halstuch maskiert ist, schreckt die Frau auf. Vor Angst und Entsetzen versucht sie zu schreien. Doch der Verbrecher weiß, wie er sie zum Schweigen bringen und ihren Widerstand lähmen kann. „Ich habe ein Messer dabei“, raunt er dem Opfer zu. Sie kann nicht wissen, dass das gar nicht stimmt. Er hat kein Messer dabei. Seine beste Waffe ist die Angst der Überfallenen. Und er hat auch noch das Chloroform und seine Fesseln.
Die Frau ist ihm ausgeliefert. Er fordert sie auf, ihn nicht anzusehen und sich bäuchlings auf ihr Bett zu legen. Aus Angst tut sie, was er sagt. Als Nächstes fesselt der Arzt seinem Opfer die Hände auf dem Rücken und hält ihm ein mit dem Narkotikum getränktes Tuch vor Mund und Nase. Die Frau versucht, sich zu wehren, wirft ihren Kopf hin und her. Doch er hält sie fest, bis das Chloroform wirkt und ihr Bewusstsein schwindet. In dem sicheren Gefühl, dass sie nun nichts mehr mitbekommt, zieht er die Maskierung von seinem Gesicht und vergeht sich an ihr. Dann löst er ihre Fesseln und verschwindet. Die Kordel lässt er zurück, ebenso wie sein gebrauchtes Präservativ. Eigentlich ein gravierender Fehler, aber der Vergewaltiger wähnt sich sicher, dass man ihn nicht identifizieren wird. In der Wohnung bleiben auch sein Geruch und der des Chloroforms zurück – und die Angst, die sich in das Leben des Opfers verbeißt. Sie lässt sich nicht mehr abschütteln, für sehr lange Zeit nicht.
Eines der Opfer hat besonders unter den Misshandlungen des Serientäters zu leiden. Die 31-Jährige hat versucht, sich seinem Griff zu entwinden und dem Chloroformtuch zu entkommen. Obwohl der Verbrecher es ihr schließlich doch für einen Moment auf das Gesicht drücken kann, hält sie die Luft an und bleibt bei Bewusstsein. Als der Vergewaltiger seine Bemühungen, sie zu betäuben und zu fesseln, beendet, schlägt er auf die Frau ein. Er trifft sie hart am Kopf. Außerdem beginnt er, sie zu würgen. Für einen Moment kann sie nicht atmen. Sie verharrt in Schmerzen und Angst. Als der Täter die Hände von ihrem Hals löst, beginnt sie laut zu schreien. Sie rennt nackt nach draußen, wo sich ein Nachbar um sie kümmert. Der maskierte Mann flieht.
Die Polizei fahndet mit Hochdruck nach dem Serientäter. Gegenden, wo er zugeschlagen hat, werden observiert. Doch der Vergewaltiger hat sich nicht auf einen Stadtteil beschränkt, er hat offenbar einen großen Radius. Dass er schließlich gefasst wird, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken – und der Chuzpe des Verbrechers.
Als er sich erneut vor dem Haus einer 26-Jährigen aufhält, die er Monate zuvor überfallen hat, erkennt ihn die Frau und verständigt die Polizei. Sie ist das einzige seiner Opfer, die den Täter unmaskiert gesehen hat. Im Unterschied zu den anderen Frauen hat sie durch das Chloroform nicht vollständig das Bewusstsein verloren, sondern ist in eine Art Trance gefallen.
Bei seiner Festnahme hat Andreas A. eine Chloroformflasche dabei und acht Stilleinlagen für einen BH. Die hat er mit Chloroform getränkt, um sie seinem nächsten Opfer vor Mund und Nase zu halten. Bei einer Wohnungsdurchsuchung wird später auch eine Plastiktüte mit einer Kordel darin sichergestellt.
Keine der Frauen, die der 32-Jährige überfallen und missbraucht hat, kann problemlos in ihrer Wohnung bleiben. Nicht, nachdem ein brutaler Verbrecher den bis dahin sicher schützenden Raum entweiht, benutzt und beschmutzt hat. Eine 26-Jährige zieht für sechs Monate zu ihren Eltern. Sie leidet auch dort unter Schlafstörungen. Als sie schließlich allmählich wieder anfängt, in ihrer Wohnung zu übernachten, kann sie die Dunkelheit nicht ertragen. Sie muss nachts das Licht angeschaltet lassen. Eine andere Frau bekommt nach der Tat Asthmaanfälle. Sie zieht aus ihrer Wohnung aus und geht nicht mehr allein auf die Straße. Ein Opfer verbarrikadiert sich jeden Abend in seinen vier Wänden. Eine Frau hat seitdem ein überreiztes Gehör. Schon ihre eigenen Atemgeräusche reichen aus, um zu meinen, jemand Gefährliches sei in ihrer Nähe. Alle Frauen leiden unter Albträumen. Eine zieht ganz aus Hamburg fort. Die Opfer leiden lange, manche für immer.
Sechs Monate nach der Festnahme des Verdächtigen beginnt vor dem Landgericht der Prozess gegen den Arzt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem Vergewaltigung und gefährliche Körperverletzung vor. Der Mediziner gesteht die Vorwürfe im Wesentlichen. „Ich war zu sehr in meine Fantasie verstrickt“, sagt er. „Ich habe manchmal bis zur Erschöpfung an den Fensterscheiben geklebt.“ Er habe den Frauen keine Angst einjagen wollen. Jedem seiner Opfer bietet er 10 000 Mark Schmerzensgeld an.
Seinen Lebenslauf schildert er so: Das Abitur bestand er mit der Note 1,9. Sein Medizinstudium hat er zügig durchgezogen und 1985 abgeschlossen. Bei seiner Tätigkeit in einem Krankenhaus leistet er viele Nachtdienste und bemüht sich um Fortbildungen. „Ich wollte besonders in der Notfallmedizin gut vorbereitet sein, weil ich Angst hatte, einer Situation nicht gewachsen zu sein. Als Arzt stellt man sich immer die Frage: Hätte ich es auch besser machen können?“
Vielleicht wird Andreas A. sich gar nicht bewusst, wie sehr dieser medizinische Anspruch zu seinen Verbrechen im Gegensatz steht: hier der engagierte Arzt, da der hinterhältige Vergewaltiger. Seine Taten hat er offensichtlich sorgfältig vorbereitet. Die Wohnungen der durchweg jungen Frauen sind keinesfalls immer leicht einzusehen gewesen. Der Angeklagte, ein ehemaliger Leistungssportler, ist über Mauern geklettert oder durch unverschlossene Hauseingänge in die Gärten eingedrungen. Selbst durch Briefschlitze hat der Mann seine Opfer ausgespäht. „Ich war dort nicht der einzige Spanner“, sagt er.
„Dieses Jahr ist wie ein Tunnel für mich gewesen“, beschreibt Andreas A. die Zeit, in der er die Frauen vergewaltigt hat. Auch Kollegen ist eine Veränderung an dem sonst als vorbildlich beschriebenen Arzt aufgefallen, der keine Fortbildung ausgelassen hat. „Er vergrub sich in seine Arbeit und wurde immer verschlossener dabei“, erzählt ein Kollege des Mediziners. „Ich dachte schon, er hätte Aids.“ Dass der 32-Jährige ein Verbrecher sein könnte, hat niemand in seinem Umfeld geahnt.
Andreas A. wirkt im Prozess äußerlich sehr kontrolliert, nahezu unbeteiligt, emotionslos. Sein Gesicht ist wie zu einer Maske erstarrt. Nur das Spiel seiner Hände verrät Nervosität. Von seiner Ehefrau wird er als ein Mann geschildert, „der niemals erzählt, dass ihn etwas bedrückt“. Alles fresse er in sich hinein, so auch den Leistungsdruck, dem er sich selber ausgesetzt habe.
Auch während die Opfer aussagen, wirkt Andreas A. wie abgeschottet. „Nachdem ich überfallen wurde, konnte ich erst mal keinem Mann mehr in die Augen sehen“, sagt eine Studentin und ehemalige Krankenschwester. Über die 10 000 Mark Schmerzensgeld, die der Angeklagte den Opfern jeweils angeboten hat, sagt sie: „Das klang wie ein Werbebrief. Ich hatte einen solchen Hass auf ihn, dass ich ihm keine weitere Gelegenheit