Sex and Crime. Klaus Püschel

Sex and Crime - Klaus Püschel


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Sie erzählen von ihren Ängsten vor dem maskierten Mann, der sie bedrängte, bedrohte, überfiel, betäubte. Der sie sexuell missbrauchte. Eine 27-Jährige, die von dem Angeklagten chloroformiert, aber nicht vergewaltigt wurde, ist die einzige der Betroffenen, die sagt: „Ich empfinde zwar Ekel ihm gegenüber, aber auch Mitleid.“

      Ein psychiatrischer Sachverständiger billigt dem Angeklagten verminderte Schuldfähigkeit zu, weil dieser sich während der Zeit, in der er die Verbrechen begangen hat, in einer schweren Lebenskrise befunden habe. Der Gutachter erzählt von den Anfängen des Angeklagten beim Spannen, als dieser noch in der Pubertät war und Mädchen in Schwimmbädern in den Umkleidekabinen beobachtet. Später beim Joggen habe er durch Wohnungsfenster Frauen beim Ausziehen zugesehen. Das frühe Spannen des Mannes sieht der Sachverständige als einseitige Fantasiebeziehungen, in denen Andreas A. gleichsam „mit einer Tarnkappe“ präsent gewesen sei.

      Später, als sich der Angeklagte als junger Familienvater und beruflich stark eingespannter Arzt äußerlich etabliert habe, habe er die Fantasie entwickelt, in die Wohnungen unbekannter Frauen einzudringen, sie zu fesseln und zu betäuben. Beim Spannen und schließlich, wenn er die Frauen durch Chloroform außer Gefecht setzte, habe er die Kontrolle geschätzt und sich mächtig gefühlt. Seine Fantasien auszuleben, sei „wie ein Sog“ gewesen. Mit seinen Taten habe er vor allem Aggressionen und Zorn abbauen wollen. Der Gutachter spricht von einer „Tag- und einer Nachtseite“ des Angeklagten, die „streng voneinander getrennt“ gewesen seien: Die Tagseite, in der er sich hilfsbereit und verantwortungsbewusst zeigte, lebte er in Familie und Beruf aus. Die Nachtseite offenbarte die Triebhaftigkeit und Aggressivität. Eine Parallele zu Dr. Jekyll und Mr. Hyde drängt sich auf.

      Eine Wiederholungsgefahr sei bei Andreas A. jedoch ausgeschlossen, urteilt der Sachverständige. Denn es handele sich bei den Verbrechen um Geschehnisse, die auf einer besonderen inneren und äußeren Lebenskrise beruhten. Mit der Festnahme und Inhaftierung habe eine Zäsur eingesetzt, in der sich der 32-Jährige mit seinen Problemen auseinandergesetzt habe. Allerdings sei eine weitere Therapie zu empfehlen, macht der Gutachter deutlich.

      Der Angeklagte selber sagt unter Tränen. „Für mich ist die Schuld da, und das lebenslänglich.“ Im selben Moment fängt eines der Opfer an, haltlos zu weinen. „Jedes Wort, das die Frauen gesagt haben, hat sich bei mir eingegraben“, fährt Andreas A. fort. „Ich war es, der ihnen ihr Vertrauen genommen hat. Ich kann verstehen, dass Hass da ist. Eins muss klar sein: Ich nehme das nicht leicht. Für mich ist die Schuld nicht teilbar“, sagt er. „Ich weiß, dass ich es war.“

      Die Staatsanwältin formuliert in ihrem Plädoyer: „Er hat seine Opfer zu einem leblosen Stück Fleisch degradiert.“ Andreas A. habe äußerst brutal gehandelt, als er seine Opfer im Schlaf überfiel. „Schlimm ist auch, dass er sich maskiert hat. Die Frauen lebten so in permanenter Unsicherheit. Jeder Mann, dem sie begegneten, hätte ihr Vergewaltiger sein können.“

      Der Verteidiger versucht, die Verbrechen seines Mandanten als schreckliche Entgleisung eines sonst gewissenhaften und verantwortungsvollen Menschen darzustellen. „Es handelt sich bei ihm um einen schwerwiegenden Persönlichkeitsverfall. Die Taten haben bei ihm tiefe Verzweiflung bewirkt. Das Tagesgesicht war voller Aufopferung. Seine abgedunkelte Persönlichkeit schaffte sich Opfer.“

      Das Gericht verhängt schließlich sechs Jahre Freiheitsstrafe für Andreas A. „Der Angeklagte ist nur beschränkt zurechnungsfähig“, erläutert die Richterin und folgt damit der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen. Aber sie räumt auch ein: „Das klingt merkwürdig, weil alle Taten geplant waren und der Mediziner auch im Prozess ruhig und besonnen wirkt. Das Abnorme versagt sich oft der öffentlichen Einsicht.“ Auch das Geständnis habe für den Angeklagten gesprochen, denn dazu gehörten Mut, Einsicht, Schamgefühl und der Wille, die Taten zu beenden. Andererseits müsse strafverschärfend berücksichtigt werden, dass der 32-Jährige die Frauen in ihrem privaten, persönlichsten Umfeld überfallen hat. Andreas A. habe seit seiner Kindheit ein falsches Bild von einer dominanten Frau, er sei unfähig, völlig gelöst zu sein. „Sein Blickfeld wurde immer tunnelartiger, das Gesicht immer maskenhafter.“

      Vielleicht hat Andreas A. wirklich geglaubt, dass seine Verhaftung und die Zeit im Gefängnis ein heilsamer Schock wären. Dass er nie mehr straffällig werden würde. Aber die Realität holt ihn ein.

      Die Beziehung zu seiner Ehefrau, die im Prozess noch zu ihm gehalten hat, zerbricht. Es folgt die Scheidung. Und vor allem: Schon beim Urlaub aus der Haft beginnt er wieder mit dem nächtlichen Spannen. Ein früheres Opfer bemerkt das und alarmiert die Polizei. Nun wird er selber observiert, und die Ermittler stellen fest, dass er sich erneut und wiederholt voyeuristisch betätigt. Als er drei Jahre nach seiner Verurteilung einen Antrag auf Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung stellt und eine vorzeitige Haftentlassung beantragt, wird ein Gutachten gefertigt — mit einem für den mittlerweile 36-Jährigen entblößenden Ergebnis: Die Gefährlichkeit des Mannes sei „so frisch wie am ersten Tag“.

      Im November 1996, exakt sechs Jahre nach seiner Festnahme, wird Andreas A. schließlich aus der Haft entlassen. Dass er seine Freiheitsstrafe voll verbüßen muss, zeigt, dass eine vorzeitige Entlassung aus Sicht der Fachleute nicht verantwortet werden konnte. Und nicht nur das: Der jetzt 38-Jährige kommt auch unter Führungsaufsicht und muss sich weiterhin therapeutisch behandeln lassen, obwohl er felsenfest verkündet: „Ich meinem jetzigen Leben und auch in meinem Denken spielt der Voyeurismus keine Rolle.“

      Weit gefehlt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis lebt Andreas A. mit seiner neuen Freundin zusammen, den neuen Job bei einer Softwarefirma verliert er aber bald wieder. Seine Approbation hat er längst zurückgegeben. Als er fast genau ein Jahr in Freiheit ist, wird er erneut beim Spannen erwischt. Er ist auf einen Balkon geklettert und hat eine Frau durch das Fenster beobachtet. Vor Gericht wird er wegen Hausfriedensbruch und Körperverletzung zu fünfzehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, die in der Berufung zu einem Jahr Haft abgemildert wird — auf Bewährung. Er hat eine Therapie begonnen, die nun wirklich helfen soll. Das verspricht er.

      Der Mann war eine tickende Zeitbombe, und die soll nun entschärft worden sein? Tatsächlich: Soweit wir dies wissen, hat er danach keine Verbrechen mehr begangen.

       Gefährliches Chloroform

      Die chemische Bezeichnung für Chloroform lautet Trichlormethan (CHCl3). Chloroform wurde 1831 unabhängig voneinander von dem US-Amerikaner Samuel Guthrie, dem Deutschen Justus Liebig und dem Franzosen Eugène Sonbeiran hergestellt. Liebig bezeichnete die Substanz als Chlorkohlenstoff, Jean-B. Dumas gab ihr später den Namen Chloroform. Die narkotisierende Wirkung wurde im Tierversuch rasch erkannt.

      Chloroform wurde schon bald neben dem bereits gebräuchlichen Ether in die ärztliche Praxis eingeführt, zunächst zur Linderung von Geburtsschmerzen. Später wurde dann vorgeschlagen, es auch bei chirurgischen Anästhesien einzusetzen. Nach erfolgreichem Einsatz bei der englischen Queen Victoria wurde Chloroform zu dem in Europa am weitesten verbreiteten Narkosemittel.

      Nach 1890 wurde wieder Ether bevorzugt, weil die unerwünschten Nebenwirkungen des Chloroforms zu relativ häufigen anästhesiebedingten Todesfällen führten.

      Hergestellt wird Chloroform durch Erhitzen von Chlor mit Methan. Trichlormethan ist eine farblose, nicht entflammbare, flüchtige Flüssigkeit von süßlichem Geruch. Die Mischbarkeit mit Wasser ist begrenzt. Handelsübliches Chloroform enthält 0,5 bis 1 Prozent Ethanol als Stabilisator. Heute wird Chloroform in erster Linie als Lösungsmittel im Labor eingesetzt. Bei Missbrauch kann Chloroform tödlich sein!

      Chloroform ist generell sehr gesundheitsschädlich: Es führt zu Hautreizungserscheinungen, außerdem auch zu einer Reizung der Atemwege und der Augen. Beim Einatmen wirkt es giftig und beim wiederholten Gebrauch krebserregend (cancerogen).

      Die Dämpfe von Chloroform verursachen


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