Sex and Crime. Klaus Püschel
Blutgruppenmerkmale. Der DNA-Abgleich war noch lange nicht „erfunden“.
Die Angehörigen der Opfer schildern im Zusammenhang mit dem Mordprozess von 2011 in Kiel die Traumata der Familien. Auch noch drei und vier Jahrzehnte nach den Taten waren die Verbrechen ein Thema in den Familien. Der Verlust des geliebten Menschen, die Frage nach dem Warum und der quälende Gedanke, dass der Täter noch frei herumläuft: Sie haben die Angehörigen nicht zur Ruhe kommen lassen. Jetzt endlich können die Familien einen Abschluss finden. Ein besonderes Problem: Zeitweise vermutete die Polizei den Täter im Umfeld der Familie. So wurde der Albtraum noch schlimmer und belastender.
Der Serienmörder, der fünf Frauen getötet hat und erst siebenundzwanzig Jahre nach der letzten Tat überführt worden ist, erhält vom Kieler Landgericht eine lebenslange Freiheitsstrafe (ohne dass die sogenannte „Schwere der Schuld“ festgestellt wurde). Insofern könnte Hans-Jürgen S. theoretisch nach fünfzehn Jahren, wenn er achtzig Jahre alt ist, wieder in Freiheit kommen.
Ein anderer Mann hat für einen Sexualmord, den er nicht begangen hat, einunddreißig Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht. Dirk K. wurde um sein halbes Leben betrogen. Für einen Mord im April 1985 an einem sieben Jahre alten Jungen war er 11 000 Tage lang der Freiheit beraubte. In einem spektakulären zweiten Verfahren erfolgte schließlich der Freispruch.
Eine Woche nach dem Gewaltverbrechen, bei dem ein kleiner Junge halb entkleidet und tot in einem Gebüsch gefunden worden war, hatte die Polizei den Aushilfsgärtner Dirk K. festgenommen. Er geriet in Verdacht, weil er schon früher sexuelle Kontakte zu Jungen gesucht hatte. Der junge Verdächtige ist geistig behindert, sein Intelligenzquotient wird auf 74 eingestuft. Bei intensiven Vernehmungen gesteht er die Tat sehr pauschal und wird dann nach einer sehr kurzen Verhandlung verurteilt. Wegen seiner intellektuellen Einschränkungen gilt der junge Mann als schuldunfähig; er wird in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen, zeitlich unbegrenzt. Bei der Gerichtsverhandlung und später immer wieder widerruft der Mann sein Geständnis und beteuert seine Unschuld.
Er wird deswegen als uneinsichtig sowie nicht therapierbar eingestuft. Für ihn und seine psychiatrischen Gutachter ist dies eine Art Teufelskreis. Der Eingesperrte fühlt sich unschuldig und ist ja auch unschuldig. Aber die Gutachter stufen dies als Lebenslüge ein, weil sie davon ausgehen, dass die Feststellungen im Gerichtsurteil zutreffen. Dadurch wird eine ansonsten mögliche positive Prognose verhindert. Und so verbleibt dieser Mann drei Jahrzehnte lang hinter den Mauern, den verschlossenen Türen und Gitterstäben des Gefängnisses, bis sein neuer Anwalt und die Hamburger Rechtsmedizin diesen Fall nach so langer Zeit völlig neu aufrollen.
Anlass dazu ist ein Geständnis, das ein anderer junger Mann aus freien Stücken zunächst bei seiner Psychiaterin, dann auch bei einem Anwalt und bei der Staatsanwaltschaft ablegt, welches im Detail zu den objektiven Beweismitteln passt. Insbesondere geht es dabei um die Verletzungen und die Todesursache des Jungen. Das Gericht hatte Messerstiche in den Hals noch als postmortale Tiereinwirkung abgetan. Von diesen sehr speziellen Halsverletzungen hatte der ursprünglich Verurteilte in seinem Geständnis nie etwas erwähnt. Eine Reihe weiterer Details unter anderem im Hinblick auf das Verletzungsmuster des getöteten Jungen führen letztlich dazu, dass der Mord an dem kleinen Jungen neu aufgerollt wird.
Jetzt wird Dirk K. vom Landgericht Dortmund freigesprochen und erhält eine hohe Entschädigungssumme für die erlittene Zeit hinter Gittern. Das Fehlurteil hat einen Mann getroffen, der sich wegen seiner geistigen Einschränkungen kaum wehren konnte. Umso mehr muss beeindrucken, was der Beschuldigte in seinem letzten Wort, das von seinem Verteidiger verlesen wird, sagt. Er beteuert erneut, er habe den Jungen nicht getötet: „Der Mörder läuft frei herum.“
Und der Mord an dem Siebenjährigen bleibt auch weiterhin ungesühnt. Der Mann, der bei der Staatsanwaltschaft aus freien Stücken ein Geständnis abgelegt hat, widerruft dieses später. Da es keinerlei Zeugen und keine objektiven Beweismittel gibt, wird gegen ihn jetzt keine Anklage erhoben — obwohl Mord nicht verjährt. In seinem Fall gilt: „In dubio pro reo.“
Oder erinnert sei an den Fall Birgit Meier. Diese wurde im Jahre 1989 von Kurt-Werner W. entführt und gefangen gehalten. Sie wurde sexuell malträtiert und dann durch einen Kopfschuss getötet. Den Leichnam hat der Mörder unter seiner Garage vergraben und einbetoniert. Dieser Fall wurde von der Polizei lange als Vermisstensache behandelt. Das Verbrechen wurde erst 2017 aufgeklärt, als der Leichnam der Frau von einem privaten Ermittlerteam gefunden und ausgegraben wurde, einem Team von ehemaligen erfahrenen Kriminalbeamten, Juristen und Rechtsmedizinern.
Weitergehende Ermittlungen und Analysen haben inzwischen ergeben, dass Kurt-Werner W. sehr wahrscheinlich auch der ominöse Göhrde-Mörder war, der 1989 innerhalb weniger Wochen zwei Liebespaare tötete. W. ist vermutlich auch für zahlreiche weitere Morde an Frauen im norddeutschen Raum, möglicherweise auch in Süddeutschland, verantwortlich. Die Ermittlungen zu Kurt-Werner W. sowie zu möglichen Mittätern dauern an.
Eine besondere Pointe: Die Mordkommission Kiel hatte seinerzeit umfangreiche Ermittlungen darüber angestellt, ob der Serienmörder Hans-Jürgen S., der fünf Kapitalverbrechen gestanden hat, möglicherweise auch für Vergewaltigungen und Frauenmorde im weiteren Umkreis verantwortlich war. Beispielsweise wurden ihm auch Tötungsdelikte zugeschrieben, bei denen die Polizei jetzt Kurt-Werner W. als Täter im Visier hat. Dies ist ein Beispiel dafür, dass zur selben Zeit auch mehrere Serienmörder in einem Großraum ihre dunklen Taten verrichten können. Hierzu zählen etwa auch die Sexualmorde des sogenannten Säurefassmörders aus Hamburg-Rahlstedt, die wir in diesem Buch beschreiben.
Rechtsmediziner wissen: Sex kann nicht nur Motiv für Verbrechen sein, sondern es gibt auch Todesfälle aus innerer Ursache im Zusammenhang mit dem Liebesakt. Wenn es heißt, dass ein Mensch tot im Bett aufgefunden wurde, sei es zu Hause oder auch im Hotelbett, dann kann dem ein sehr unterschiedliches Geschehen vorausgegangen sein, ein Herzinfarkt oder eine andere innere Erkrankung — beispielsweise aber auch eine starke Erregung in Zusammenhang mit sexueller Aktivität. Der Partner kann sich entfernt haben. Es kann aber natürlich auch die Ehefrau sein, die nicht so gerne einräumen möchte, wie der Gatte nun genau verstorben ist.
Es geschehen auch Unfälle im Zusammenhang mit speziellen sexuellen Praktiken oder bei Sex an gefährlichen Plätzen. Menschen begehen Suizide aus verschmähter Liebe, Eifersucht, Impotenz oder wegen Schwangerschaft oder sexuell übertragbarer Krankheiten. Aus denselben Gründen gibt es Tötungsdelikte, die aber auch durch Wut oder sexuelles Alleinsein motiviert sein können. Und es gibt bizarre Sexualmorde mit sehr unterschiedlichem Hintergrund: heterosexuell, homosexuell, pädophil.
Ein Rechtsmediziner sollte sich jedenfalls sehr gut und professionell mit speziellen sexuellen Praktiken auskennen, mit Situationen am Fundort und Verletzungsmustern. Es geht um eine objektive Dokumentation der Geschehenslage und eine sachgerechte Interpretation und Rekonstruktion des Ablaufs. Da kann eine komplexe Fesselung, ein Strangulationsmechanismus, Sauerstoffmangel ganz allgemein oder eine andere äußere Einwirkung, um Schmerz zu provozieren, ganz anders zu deuten sein, als man es im Normalfall eigentlich erwartet.
Für den Rechtsmediziner gilt es auch zu berücksichtigen, dass scheinbar bizarre Einwirkungen und Verletzungen selbst beigebracht oder eventuell auch einverständlich hervorgerufen worden sein können. Man denke beispielsweise an ungewöhnliche autoerotische Unfälle.
Spezielle Sexpraktiken können sehr gefährlich werden. Wir denken an einen sehr netten und fähigen Rechtsmediziner, ein hoffnungsvoller Wissenschaftler, Ehemann und Familienvater. Dieser fand bei einer Domina im selbst gewählten Strangulationsapparat den Tod. Derartige Praktiken bergen unter Umständen tödliche Gefahren. Hinzu kommen weitere teilweise sehr belastende Aspekte wie Infektionsausbreitung, Schwangerschaft und die in Einzelfällen sehr weitreichende psychische Traumatisierung oder auch psychische Abhängigkeit. Sehr gefährlich und als langfristig sehr belastend können sich auch Substanzeinwirkungen und Abhängigkeiten von Drogen erweisen. Sogenannte Sexdrogen — beziehungsweise bei unfreiwilliger Verabreichung Vergewaltigungsdrogen — führen zu körperlichen Schädigungen, Bewusstseinseinschränkungen, Bewusstlosigkeit bis hin zu tödlichen Abläufen. Bei wiederholtem Gebrauch resultiert daraus eventuell auch eine von der ursprünglichen sexuellen Motivation abgelöste psychische und/oder körperliche Abhängigkeit.