In die Transitzone. Elena Messner
es über einen Menschen heben, denn überall saßen sie in Gruppen oder hockten, knieten und lagen im Gras.
Nur um den LKW herum war viel Bewegung, die Menschen kamen hin, warfen weiterhin die Blumen in den Laderaum, die ihnen die Frauen in die Hand gaben, und waren dann wieder weg.
Marguerite ging wie eine Priesterin umher, ihr freundliches, faltiges Gesicht schien immer weniger zu dem zu passen, was sie sagte: »Du?«, so trat sie an einen jungen Mann heran. »Was ist mit dir passiert?« Sie riss seinen Arm in die Höhe, drehte die Handinnenfläche zur Gruppe hin: »Wie lange hast du in deine Versicherung eingezahlt?« Sein Flüstern, seine Antwort wiederholte sie: »Monatlich. Hört ihr? Monatlich hat er in die Versicherung eingezahlt. Wer hat ihm den Aufenthalt im Krankenhaus bezahlt, als er von einem Gerüst gefallen ist?« Die Menschen, die um den Angesprochen herum saßen, begannen ihm über den Kopf zu streichen, ihm auf den Rücken zu klopfen, sie betrachteten die hochgehaltene, von Verletzungen überzogene Handinnenfläche.
Marguerite beugte sich über den Jungen, es war so ruhig, dass man ihre Stimme auch ohne Mikrofon gehört hätte: »Und deine innere Stimme? Was sagt sie?« Auf das Murmeln hin, das vom Mann am Boden kam, der schwer atmete, den Blick gesenkt hielt, ließ sie seinen Arm los, ging vor ihm auf die Knie, hob seinen Kopf, sah ihn zärtlich an, beugte sich zu seinem Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Nickte er? Sie schnellte wieder in die Höhe: »Ja, das sagt ihm seine innere Stimme: dass es nicht gerecht ist.«
So ging das dahin: »Und du?« Sobald sie das Wort an einen der versammelten Menschen richtete, zitterte dieser, oder er nickte, oder er schaute erwartungsvoll drein, mancher schluchzte sogar auf. »Wo bist du geboren? Hast du dir ausgesucht, gerade dort geboren zu sein? Du da? In einer Lehmhütte? Hast du darum gebettelt, in die ärmste Familie deines Dorfes hineingeboren zu werden? Hast du mit abgestimmt, als entschieden wurde, dass deine Eltern die und die Hautfarbe haben sollten? Dass deine Eltern mit dir auf dem Rücken aufbrechen würden, um ihr Glück zu suchen? Du da! War es gewollt, dass die Mutter von dem dort bei seiner Geburt gestorben ist? Weshalb hört ihr nicht auf eure innere Stimme? Was sagt sie euch?«
Große Sonnenbrillen waren auf sie gerichtet, in manchen der schwarzen Gläser spiegelte sich das Licht, man konnte nicht sehen, wen oder was die Träger musterten, ob sie Marguerite ansahen oder jemand anderen, der es gar nicht merkte.
Es gab ja viel zu schauen: die Leute, ihre Kleidung, die Fäden in den Turbanen, die Flecken auf Baskenmützen und Stoffbändern, die Ränder der Schatten, die ihre Kappen mit den Schutzschirmen auf Nasen und Wangen warfen. Hatten sie absichtlich ihre Gesichter vermummt? Nur wegen der Sonne oder aus anderen Gründen? Kapuzenpullis, Hüte, fettiges Haar, Gel in den Borsten eines Irokesenschnitts, die Muster der Stoffe, und dazwischen Marguerite, die auf und ab ging, sie selbst unverhüllt, ohne das schwarze Tuch, das er von den Fotos kannte.
Die Möwen schrien immer wieder auf, wenn zwischendurch der Applaus anschwoll, beruhigten sich danach wieder, zogen weiterhin stumm ihre Kreise über der Menschenansammlung und dem LKW, aus dem immer mehr Buntes von den braunen Decken her blinkte. Die Blüten und Blätter hatten sich teils ineinander verhakt.
»Wir bleiben dabei!«, rief die Rednerin plötzlich besonders laut, und dann dieser Lautstärke entsprechend heftige Dinge, die begannen mit: »Ihr wisst es doch!«, die weitergingen mit »Die Freiheit des Menschen, sein Leben zu lieben!«, die sich noch steigerten: »Die Freiheit, sein Leben zu retten!«, bis zu einem letzten Ausruf: »Diese Freiheit ist die elementarste und gilt für alle gleichermaßen!«
Daniel bekam gegen seinen Willen eine Gänsehaut, dabei war ihm die Aussage in ihrer Banalität, vor allem aber die Leidenschaft, mit der sie vorgetragen wurde, peinlich. War das nicht bloß die Bestätigung der offiziellen Losung des Landes, die auf Ausweise, auf Briefmarken und Münzen, sogar auf Eintrittskarten öffentlicher Museen gedruckt war?
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