In die Transitzone. Elena Messner
Er kenne das doch bestimmt, erklärte Bakary Daniel mit angespannter Stimme, die Stadtufer müssten von den Angetriebenen freigehalten werden, denn wenn sie auf den Stränden verwesten, breiteten sich Krankheiten aus. Außerdem reagierten die Menschen unterschiedlich, wenn sie auf sie stießen. »Die hier sind höchstens dreißig Stunden im Wasser gelegen.« Am Anfang habe es bei den Aktionen noch Schaulustige gegeben, aber heute interessiere das niemanden mehr. Einige Freiwillige von der Küstenwache versuchten weiterhin jeden Tag, Überlebende zu finden, aber zumeist erfolglos. Etwas freundlicher im Ton meinte er dann, manchmal kämen auch ihm beim Arbeiten noch die Tränen. Daniel wünschte sich, er würde wegschauen und aufhören, ihm all das zu erklären, was er ohnehin wusste, weil der andere aber immer weiter redete, wohl um ihn zu beruhigen, bekam er das Gefühl, es an Bord nicht mehr auszuhalten. Er stürzte sich bekleidet ins Wasser, nachdem er Bakary seine Geldbörse und seinen Pass in die Hand gedrückt hatte.
Das Meer war kalt, und die Nasenschleimhäute, das Zwerchfell und die Lunge reagierten sofort darauf. Durch die halbgeöffneten Augen sah er die Boote und den Himmel darüber. Seine Augen brannten, und es ekelte ihn, im Wasser zu schwimmen, in dem auch die Leichen lagen. Aber es tat zugleich gut, also tauchte er noch tiefer hinab und blickte in das schaumige Weiß um ihn herum. Es war schön, als versuche die Helligkeit im Wasser zunächst mit ihm zusammen abzutauchen, würde aber nach oben getragen, wo sie sich in Bläschen verwandelte, die in verschiedene Richtungen auseinandertrieben, der Oberfläche entgegen und zum Sonnenlicht hin.
Mit Armen und Beinen schob er kurz darauf seinen Körper wieder nach oben, vom Meer niedergedrückt, aber mit heftigen Bewegungen dagegenhaltend. Dann griff er nach den Händen, die ihm vom Boot aus entgegengestreckt wurden.
TRANSPORT
Der LKW war von einem pulvrigen Grau überzogen, einer Mischung aus getrocknetem Schlamm und Staub. Die Toten wurden in den Laderaum gelegt, und bald war dessen Boden vom Meerwasser nass, man ging behutsam vor, wenn es ging, und gehetzter, sobald die nächste Leiche herbeigetragen wurde. Den Tauchern half man aus den Anzügen, zwei Bootsfrauen stritten sich leise mit ihnen, Schnalzgeräusche und Surren, sie überprüften ihre Ausrüstung und die Masken, diskutierten miteinander, einer wischte sich die Augen, schüttelte immer wieder den Kopf, andere klopften ihm auf den Rücken. Die Toten wurden mit braunen Tüchern zugedeckt, und da sich die Körperreste durch den Stoff abzeichneten, wurde noch deutlicher, wo ein Kopf, ein Arm oder ein Bein fehlte. Daniel strich mehrmals über sein Hemd und seine Hose, sie trockneten bereits im Wind und in der heißen Sonne. So wie die anderen ihn mit Blicken maßen, wurde ihm klar, dass er rote Augen haben musste. Es war ihm peinlich.
»In den Wagen!«, rief Bakary durchs Seitenfenster in seine Richtung, und er stieg auf einen der Vordersitze. Zwei Typen quetschten sich neben ihn, einer der beiden zog an der Tür, die zunächst knirschte und dann mit einem Knall zufiel, daraufhin drehte er gleich die Fensterscheibe hinunter und rief, während der Wagen losfuhr, einigen Leuten am Ufer Aufforderungen zu.
Die anderen schienen sich untereinander nicht zu kennen, stellten sich der Reihe nach vor. Zu beiden sagte Bakary: »Was für ein hübscher Name.«
Niemand fragte Daniel, was er hier mache, und er war dankbar, nicht reden zu müssen.
Dem LKW fuhren ein paar Autos hinterher, die am Strand auf sie gewartet hatten, Verstärkung?, dahinter reihten sich Fahrräder und Motorroller ein. Der Beifahrer kurbelte jetzt die Scheibe des Autofensters wieder nach oben, weil der Wind ihm die schulterlangen Haare ins Gesicht warf, und danach war es, als hätte sich die Stimmung im Wagen mit einem Mal verändert. Permanent spuckten die beiden Männer in Richtung Bakary Sätze aus wie: »Was wir uns schon wieder antun müssen!«, »Hundsarbeit!« Der eine seufzte darüber, dass »es« auf die Art nicht weitergehen könnte, der andere meinte, dass »es« von Anfang an schiefgelaufen war, auch waren sich beide darin einig, dass man »es«, weil es aussichtslos war, sein lassen sollte. »Wir sind doch keine Viecher!« Es fielen auch ein paar Namen und Flüche.
Stritten die, oder war das ihre Art zu reden?
Bakary hielt die ganze Zeit über den Kopf schief, wie alt der wohl war, er hatte überall feine Falten in der dunklen Haut, nicht nur am Ellbogen, auch am Hals oder an den Knöcheln der Finger, mit denen er auf das Lenkrad trommelte. Eine Zeit lang hörte er nur zu, dann unterbrach er die beiden doch, das Gespräch schien ihm keinen Spaß zu machen, sogar aufzuregen, er meinte, es seien nicht die Hafenarbeiter, sondern es sei die Regierung gewesen, die den Hafen gesperrt habe.
Das ließ man nicht gelten: »Keineswegs die Regierung, auch nicht die Hafenarbeiter. Die Flüchtlinge, die waren es. Die haben blockiert. Und zu uns haben sie immer so schön gesagt …«, der Mann verstellte seine Stimme spöttisch, »… die Flüchtlinge werden uns näher zusammenbringen.«
Konzentrierte Ruhe in Bakarys Gesicht, der immer schneller fuhr, er sagte nur: »Nein, das ist so nicht korrekt«, was schon ausreichte, um den anderen aufzuregen: »Was aber ist mit –?«, er brach ab, begann wütend einen nächsten Satz: »Müsste man nicht –?«, und setzte noch einmal neu an: »Haben nicht gerade –?« Bakary ermahnte ihn lächelnd, er solle in ganzen Sätzen sprechen, daraufhin schwieg der Mann demonstrativ, aber auch das nur kurz, dann redete er gleich weiter, in der für Daniel schwer verständlichen Sprache der Stadt. »Naaa, ist es nicht so? Das mit den Flüchtlingen ist doch nur die Ausrede gewesen.« – »Und der Lolly-Garche? Hat der nicht mitgetan?« – »Was mitgetan?« – »Er hat erklärt, dass es keine Alternative gab, zu dem –!« – »Dem brauchst du nichts zu glauben.« – »Und der Charbonnier erst!« – »Ist doch unwichtig, mir ganz egal, was der sagt. Es wär’ besser gewesen, wenn die Gewerkschaft den Hafen nicht zuzumachen begonnen hätt’!« – »Die haben ihn nicht zugemacht, das war ja nur denen ihr Streik; zugemacht hat die Stadtregierung das Meer; oder du weißt schon, die Grenze hin zum Meer.«
Ein Weg hinaus aus dem gereizten Wortwechsel, den ungehaltenen Gesten und angespannten Mienen wurde immer schwerer. Was Daniel aus allem, was die drei redeten, heraushörte, war, dass der Zugang zum Meer jedenfalls unmöglich geworden war, jede Verbindung zu anderen Häfen gekappt, die Routen nach Afrika geschlossen. Die Marine hielt jedes Schiff an, egal aus welcher Richtung, unter welcher Flagge, mit wie vielen Menschen darauf es in die Stadt unterwegs war.
Immerhin habe es zum angedrohten Militäreinsatz nicht gereicht, meinte Bakary trotzig, aber auch das ließen die anderen beiden so nicht gelten: »Weil die Grundlage dafür noch nicht gegeben ist. Nach dem, was bislang in den Verordnungen steht, ist ein Einsatz dann möglich, wenn Makrique gegen die neuen Regelungen verstößt. Absurd, das musst du zugeben: Das Militär hindert uns dran, die Boote bei uns anlegen zu lassen. Deswegen können wir nicht anders, als uns an die Gesetze zu halten, und so bewahren die uns vor ihrer Bestrafung, immerhin. Aber so wird es nicht bleiben, da arbeiten sie längst daran. «
Der Laster polterte mit zu hoher Geschwindigkeit durch ein Schlagloch.
Einer der Mitfahrenden ergriff wieder das Wort, nachdem sich alle aneinandergeklammert hatten, jetzt schimpfte er darüber, dass die Fischerboote und Motoryachten in den Bootstankstellen oder an den hölzernen Anlegestellen in den Stadthäfen geplündert worden waren, und als Bakary wieder beschwichtigend dazwischengehen wollte, hieß es: »Red’ nicht! Ich hab’s ja selbst gesehen.« Der andere nickte bestätigend, beschwerte sich über die von Schlamm und Algen überschwemmten Uferbänke, dann redeten sie über den Industriehafen, über seinen Untergang, die verwaisten Container, die stillgelegten Kräne, die aus dem Beton ragten wie riesige gebrochene Mittelfinger, vor allem aber über die Kolonnen von Lastern, die die Einfahrten zu den Depots blockierten, weil sie seit Wochen niemand wegbrachte.
Der Wagen war in eine Straße eingebogen, die vom Meer weg und einen eng bebauten Hügel hinauf führte. Einige Autos, Fahrräder und Motorroller fuhren ihnen noch immer hinterher, die Fahrräder fielen wegen der Steigung der Straße zurück. Daniel versuchte sie durch den Seitenspiegel zu beobachten, aber Bakarys Hände am Lenkrad versperrten ihm die Sicht. Die Fahrt dauerte insgesamt nicht lange. Bevor die kurvenreiche Straße wieder abwärts führte, hielten sie an. Die Männer sprangen aus dem Wagen, Bakary