Nachricht an den Großen Bären. Eva Schörkhuber
Eva Schörkhuber
Nachricht an den Großen Bären
Roman
Du wirst dich jetzt auf meine Stimme konzentrieren. Meine Stimme wird dir dabei helfen, weiter zu kommen. Sie wird dich auf eine Reise schicken. Sie wird dir zeigen, wie deine Welt in ein paar Jahren aussehen wird. Du wirst sehen, wie du dich dann verhalten wirst. Ich zähle jetzt von eins bis zehn. Wenn ich bei zehn angelangt bin, wirst du dich auf den Weg gemacht haben, um die Welt zu verändern. Ich sage: eins. Du konzentrierst dich ausschließlich auf meine Stimme und beginnst langsam, dich zu entspannen. Zwei. Deine Hände und deine Finger werden wärmer und schwerer. Drei. Die Wärme dehnt sich aus von deinen Händen über deine Arme, deine Schultern und deinen Nacken. Vier. Deine Füße und deine Beine werden schwerer. Fünf. Die Wärme dehnt sich in deinem ganzen Körper aus. Bei sechs möchte ich, dass du tiefer gehst. Ich sage nun: sechs. Dein ganzer warmer Körper beginnt zu sinken. Sieben. Du gehst tiefer und tiefer und tiefer. Acht. Mit jedem Atemzug gehst du tiefer. Neun. Du schwebst. Bei zehn wirst du in einem Zug sitzen, der gerade abfährt. Ich sage: zehn.
Inhalt
HABE ICH IHRE LETZTE FRAGE NUN BEANTWORTET?
Nachricht an den Großen Bären
I
Nun, da ich mich auf den Weg gemacht habe, wird das alles hier ein Ende finden. Welches Ende, das wird sich zeigen, doch so weitergehen wie bisher wird es nicht. Bestimmt nicht. Unter den Rädern ächzen die Schienen. In meinem Kopf, auf meinen Armen und Beinen liegt die Schwere der vergangenen Monate. Bald schon werden wir Fahrt aufgenommen haben. Wir werden durch die Landschaft gleiten, kein Ächzen mehr, keine Schwere mehr. Nur der Leichtsinn des Unterwegs, des Unterwegs-Seins wird uns etwas benommen sein lassen. Ich trage nur wenig bei mir. Die weiche, schwarze Reisetasche auf der Gepäckablage über mir. Der graue Staubmantel, in dem meine Reisedokumente stecken, an dem Haken neben mir. Die Papiere habe ich gut verstaut. Ich habe sie zusammengerollt und während des Abreisegetümmels zwischen zwei der gepolsterten Sitze gesteckt. Wenn sie mich kontrollieren, werden sie nichts bei mir finden. Ich gehe davon aus, dass ich kontrolliert werde. Obwohl ich eine gänzlich unauffällige Person bin. Nahezu. Denn da gibt es diesen kleinen Leberfleck schräg über meinem rechten Mundwinkel. An ihm bleiben die Blicke der Menschen hängen, die sich fragen, ob er echt ist oder aufgemalt. Dieser kleine schwarze Punkt stiehlt meinem Gesicht etwas von seiner reinen Belanglosigkeit. Manche Frauen, mit denen ich auch körperlich verkehrt habe, wollten mir weismachen, dass ich schön sei. Manche Männer, mit denen ich nicht auf diese Weise verkehrt habe, auch. Ich bin überzeugt davon, dass sie sich getäuscht haben, dass sie sich haben täuschen lassen von der nahezu vollendeten Belanglosigkeit meines Gesichts. Meine Eltern haben immer behauptet, ich sähe meiner Großtante Paula ähnlich. Ich kenne sie aber nur von Bildern, von alten Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen sie jung ist und sehr bieder wirkt. Sie trägt das Haar streng zusammengebunden und lächelt gekünstelt. »Für den Fotografen« werden sie ihr damals gesagt haben, um ihr dieses schmale Lächeln zu entlocken. Ihr Gesicht ist platt und nichtssagend. Aber auch sie hat diesen Leberfleck über dem rechten Mundwinkel. Sie ist die Schwester meines Großvaters väterlicherseits, und sie lebt, soweit ich weiß, mit ihrem Mann in der kleinen Stadt, die auch an der Bahnstrecke liegt. Gesehen habe ich sie nie. Gehört von ihr habe ich so gut wie nichts. Ein alter, schäbiger Mantel des Schweigens liegt über dieser Familiengeschichte, und ich habe es aufgegeben, nachzufragen. Mein Vater weiß nichts oder will nichts wissen, und mein Großvater hat sich zeit seines Lebens geweigert, über seine Schwester zu sprechen.
Der Schnellzug kriecht aus der Stadt, langsam wie eine Schnecke, die sich ihres alten, brüchigen Hauses entledigt, um ein neues zu suchen. Die Ränder der Stadt liegen in Trümmern. In den Vororten türmen sich auf den Straßen die Reste der Barrikaden, Sandsäcke, Holzpaletten. Möbelstücke liegen zerstreut, zerrissen und zerstückelt herum. Dass es so weit gekommen ist, überrascht mich auch heute noch. »Wehret den Anfängen« ist vor ein paar Jahren auf Transparenten gestanden, und ich habe gelacht über diesen historischen Kurzschluss, über diese so geschichtsbeflissen übertriebene Hysterie. Nun ja. Zwei Jahre später schon ist die Wahl annulliert worden. Alle darauffolgenden Wahlgänge sind wieder angefochten und aus immer fadenscheinigeren Gründen für ungültig erklärt worden. Ich kann sie nicht mehr alle aufzählen, die Vorwände, mit denen ein immer befangeneres Höchstgericht die Wahlergebnisse für null und nichtig befunden hat. Einmal sind es die Briefwahlen gewesen, einmal das Wahlalter, ein anderes Mal wiederum die angeblich getürkten Wahllisten und so weiter und sofort. Schließlich ist die Wahlbeteiligung auf unter zehn Prozent gesunken. Das hat das Höchstgericht zum Anlass genommen, keinen weiteren Wahltermin mehr festzulegen.
Ah, wir erreichen die Stadtgrenze. Die Vorstadtruinen weichen den sanften, bewaldeten Hügeln. Ein erstes Aufatmen. Wir gewinnen an Fahrt. Ich hoffe, dass ich dieses Abteil ganz für mich behalten kann, dass kein Mensch neben mir oder gar mir gegenüber Platz nehmen wird. Diese Bahnabteile sind mir normalerweise zu eng. Oder zu intim, wie Claire vielleicht sagen würde. Aber nur hier sind die Polstersitze eng genug, um zwischen ihnen die Papierrollen zu verstecken. Und das ist schließlich meine Aufgabe. Ich strecke die Beine aus. Ich streife die Schuhe ab und lege die Füße auf den Sitz gegenüber. Nein, Entspannung verspüre ich noch keine. Eher eine tickende Unruhe, als hätte ich nur noch wenig Zeit, meine Gedanken zu ordnen und mir über die letzten Monate klar zu werden. Dabei weiß ich doch, dass diese Fahrt lange dauern wird, vielleicht sogar sehr lange, denn bis ich über die Grenze … Aber daran denke ich jetzt nicht. Ich sollte lieber versuchen …
Aber nein, nicht doch: »Danke, nein, ich möchte keinen Tee«. Wie sie mich ansieht, diese Person, die ihren Service-Wagen durch die schmalen Gänge schiebt. Als stünde in meinem Gesicht etwas geschrieben, das sie zu entziffern versucht. Vielleicht ahnt sie – doch nein, Ahnung hat sie keine, und wissen kann sie schon gar nichts. Ich muss ruhig bleiben, den Umständen entsprechend gelassen. Es wird der Leberfleck über meinem Mundwinkel gewesen sein, der ihren Blick angezogen hat. Auch sie wird sich gefragt haben, ob er echt ist oder nicht. Ich darf die Nerven nicht verlieren. Nicht jetzt. Ich habe so lange schon durchgehalten, ich werde nicht jetzt, auf den letzten Kilometern