Nachricht an den Großen Bären. Eva Schörkhuber
Stücke herausgebrochen und vor sich aufgestapelt. Sie haben das so lange betrieben, bis von der Bodenfläche nur noch wenig übrig gewesen ist. Die wenigen, die noch Boden unter den Füßen gehabt haben, sind auf den hohen Türmen gesessen, die sie aus den herausgebrochenen Flächen gebaut haben. Die anderen sind ins Bodenlose gestürzt. Als wir bei diesen Traumbildern angelangt waren, habe ich dem Wachmann gesagt, dass er die Geschichte Europas geträumt habe. Begonnen habe er in seinen Traumversatzstücken bei dem zerbrochenen, zerklüfteten Kontinent, auf dem wir heute leben. Und dann habe er diese Geschichte zurückgeträumt, bis an jenen Zeitpunkt zurück, an dem die Zerstörung unwiderruflich geworden sei. Nachdem ich ihm das gesagt habe, ist dieser Alptraum verschwunden. Er hat wieder ruhig schlafen können und mir dabei geholfen, mich zwischen den Achsen eines Militärlastwagens zu verstecken und so über die Grenze zu kommen.«
»Und jetzt bist du hier …«
»Ja, jetzt bin ich wieder hier.«
»Ich habe noch nie davon gehört, dass es jemandem gelungen ist, aus der Zone D zu entkommen …« Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, habe ich ihn schon bereut. Er hat doch gesagt, dass er sich schämt …
»Ja, davon ist nicht viel zu hören. Aber glaube mir, es sind mehr, als du dir denkst. Wenn sie unsereins schon nicht habhaft werden können, dann schweigen sie uns zumindest tot.«
»Was machst du jetzt hier?«
»Ich verstecke mich. Ich beobachte und versuche, Menschen wie dir zu helfen.«
»Indem du sie zum Lachen bringst? Indem du sie schlagfertig werden lässt?«
»Ja, genau. Ich beobachte die Ordnungshüter, die Habgeier und die Meute. Ich mache mir Bilder von ihnen und zeige sie euch, damit ihr wisst, mit wem ihr es zu tun habt, mit welch jämmerlichen und lächerlichen Gestalten. Dann können ihre Uniformen, ihre Waffen und Klauen euch nicht mehr so große Angst einjagen.« Er hat wieder seinen Mantel geöffnet. Im Halbdunkel des Kellers habe ich gesehen, dass in den Innentaschen des Mantels Papierrollen stecken. Viele Papierrollen.
»Das sind die Bilder, die ich mir von ihnen mache. Schau …«, und er hat mir einige dieser Bilder gezeigt. Da sind Ordnungshüter zu sehen gewesen, die unbeholfen auf riesigen Weltkugeln balancieren; Habgeier, deren Krallen so schwer mit Gold beladen sind, dass sie in die Tiefe stürzen; Meuten, deren blankpolierte Schädel von Elsterschwärmen davongetragen werden. Auch den Ordnungshüter mit der Fahrradstange zwischen den Beinen habe ich mir noch einmal angesehen.
»Wenn ich diese Bilder mache, denke ich auch an jene, die im Lager geblieben sind, die ich nicht habe mitnehmen können. Ich habe alleine fahren müssen …«
»Das ist deine einzige Chance gewesen«, habe ich ihm gesagt und ihn gefragt, ob er mitkommen wolle zu Zora, in ihr Atelier. »Sie ist auch Malerin. Sie malt schon seit Jahren die Auswüchse der Angst in der Stadt. Ihre Bilder werden immer … immer …«
Er hat mich angesehen und gelächelt: »Dunkler, sagen wir doch einfach – dunkler. Ich komme gerne mit zu Zora, ich möchte ihre Bilder sehen.«
Ich habe ihm die Adresse von Zoras Atelier gegeben. Er könne nicht einfach durch die Straßen spazieren, hat er mir erklärt, er müsse andere Wege nehmen. Welche, das hat er mir nicht verraten, aber wir haben bei Zora einen sehr schönen Abend verbracht. Wir haben über Zoras und seine Bilder gesprochen und über Europa, über jenes Europa, an das wir uns – nein, nicht dunkel, sondern etwas heller noch – erinnern, und über das Europa, in dem wir heute leben, das dunkle, das zerklüftete, das zerrissene. Er hat von den Zonen C und D erzählt, von dem Lager, der Zwangsarbeit und der totgeschlagenen Zeit. Er hat gesagt: »Nicht nur in diesen Lagern sind wir Vogelfreie, eingesperrt in einen riesigen Käfig, in dem wir uns gegenseitig zerfleischen.« Seinen Namen hat er uns nicht nennen wollen. Er hat gemeint, wir müssten ihm einen Namen geben, bei jeder Begegnung einen neuen.
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