Nachricht an den Großen Bären. Eva Schörkhuber

Nachricht an den Großen Bären - Eva Schörkhuber


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sie ihre Schulden bezahlen. Ich habe einmal einen Menschen getroffen, der aus der Zone D geflohen ist. Er hat sich zwischen den Achsen eines Militärlastwagens versteckt und ist so über die Grenze gekommen. In einem der großen Lager ist er interniert gewesen. Gemeinsam mit zwanzigtausend anderen hat er dort im Süden auf den Tod gewartet. Die sengende Sonne untertags, die klirrende Kälte nachts, die Menschen zusammengepfercht in Zelten hinter Stacheldraht. Alles ist ihnen verboten, es ist ihnen verboten zu schreiben, zu lesen, zu sprechen. Mit stierem Blick, gefangen im Kreislauf ihrer Gedanken schlagen sie die Zeit tot, die ihnen noch bleibt, jene Zeit, die sie untertags damit verbringen, die stupidesten Arbeiten zu verrichten, Schnürsenkel in Schuhe zu fädeln oder Etiketten auf Konservenbüchsen zu kleben. »Wir sind Vogelfreie, eingesperrt in einen riesigen Käfig, in dem wir uns gegenseitig zerfleischen«, hat er zu mir gesagt, der, der aus dem Lager entkommen ist. Ich habe ihn getroffen, als ich mit dem Fahrrad zu Zora ins Atelier gefahren bin. Ein Ordnungshüter hat mich damals aufgehalten. Er hat sich mir in den Weg gestellt, breitbeinig. Kalt und bohrend ist sein Blick gewesen. Gezwungen habe ich mich, seinem Blick standzuhalten. Ich habe mich mit dem Gedanken beruhigt, dass es wieder nur der kleine Leberfleck über meinem rechten Mundwinkel gewesen sein wird, der ihm aufgefallen, der ihm ins Auge gesprungen ist.

      »Es ziemt sich nicht für eine Frau, mit einer Stange zwischen den Beinen zu fahren«, hat er gesagt und die Hand gehoben, in der er den Schlagstock gehalten hat. Mit der anderen Hand hat er sich zwischen die Beine gegriffen und gemeint, dass das hier zwischen die Beine einer Frau gehöre und nicht eine Fahrradstange. Ich wollte ihm ins Gesicht spuken, ins Gesicht schlagen. Ich wollte ihm zwischen die Beine treten, seine Hoden wollte ich abschneiden und sie den verfluchten Habgeiern zum Fraß vorwerfen. Doch hinter ihm, mitten in meinem Blickfeld ist plötzlich eine zerlumpte Gestalt aufgetaucht. Sie hat die breite Krempe ihres graubraunen Schlapphutes ein Stück nach oben gezogen. Klare grüne Augen haben mich angesehen. Sie haben gelächelt. Die Gestalt hat ihren dunklen, dreckverkrusteten Mantel gelüftet. Unter dem Mantel hat sie ein Bild getragen, auf dem ein Ordnungshüter zu sehen gewesen ist. Seine Nase war plattgedrückt, und dicke Speichelfäden sind aus seinem Mund geronnen. Die Gesichtszüge aber sind die des Ordnungshüters gewesen, der vor mir gestanden ist. Auf dem Bild ist eine grüne Fahrradstange zwischen seinen Beinen gesteckt. Verzweifelt hat er vorne und hinten an der Stange gezerrt, doch die Stange ist unerbittlich gewesen. Ich habe das Bild betrachtet und vor mich hin gemurmelt: »Na, so ein Ständer.«

      Der Ordnungshüter hat mich verdutzt angesehen. »Was hast du gerade gesagt?«

      »Na, wenn Sie es mit einer Fahrradstange aufnehmen wollen …«

      Angestarrt hat er mich. Dann ist er rot geworden und schließlich unverrichteter Dinge davongestapft. Ich bin an die zerlumpte Gestalt herangetreten, um mich zu bedanken. Sie aber hat mich am Ärmel gepackt und in eine Seitengasse hineingezogen.

      »Psst, hier, hier können wir reden.«

      Sie hat ein Kellerfenster aufgestoßen und ist geschwind hindurchgeklettert. Ich hatte große Mühe, ihr durch das schmale Fenster zu folgen. In dem dunklen, feuchten Raum habe ich zunächst nichts erkennen können. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, habe ich bemerkt, dass wir uns in einem der Meute-Keller befinden.

      »Aber …«

      Mir ist übel geworden vor Angst. Sollte mich dieser Mensch vor dem Ordnungshüter gerettet haben, nur um mich dann der Meute auszuliefern, mich der Meute zum Fraß vorzuwerfen?

      »Keine Sorge …« Die klaren grünen Augen haben mich wieder angelächelt. »Das beste Versteck ist das, wo niemand mit dir rechnet und also niemand nach dir sucht. Und in meinem Fall …« In den Gesichtszügen dieses Menschen ist etwas gelegen, das mich an eine Zeit erinnert hat, in der von den Zonen, von der Meute und den Habgeiern noch keine Rede gewesen war, eine Zeit, in der wir noch eine Wahl gehabt haben und Europa noch nicht zerstört, zerklüftet, zerrissen gewesen ist.

      »… und in meinem Fall ist eben einer der Keller am sichersten.«

      Ich kann nicht sagen, wie alt er gewesen ist. Zerfurcht und alt ist sein Gesicht gewesen, jung und leuchtend seine Augen.

      »Hör gut zu, du musst vorsichtig sein. Du wirst dich bald auf den Weg machen und …«

      »Woher weißt du das?«

      »Ich sehe es. Deine Augen sind unruhig, sie schweifen ab, sie sind mit dem Kommenden beschäftigt, und nicht mehr mit dem, was unmittelbar vor ihnen liegt. Deine Bewegungen sind fahrig, sie werden erst wieder Ruhe finden, wenn du abgefahren sein wirst. Ich kenne das …«

      »Aber woher? Bist auch du …?«

      »Nein, ich bin abgeschoben worden. Ich habe die Arbeit verweigert. Ich wollte nicht mehr arbeiten. Also habe ich immer mehr Schulden gemacht. Immer wertloser bin ich geworden, und eines Tages ist der Bescheid in meinem Briefkasten gelegen. Die Abwrackprämie haben die Versicherungen und die Banken kassiert, wie üblich. In der Zone C habe ich genäht. Du weißt schon, im Akkord. Ich musste die Innennähte anfertigen und die Hosentaschen. Zwei lange, gerade Nähte und acht kleine, verwinkelte, die zeitraubend waren. Der Tagessatz lag bei fünfundneunzig Hosen. Ich habe ihn regelmäßig unterboten. Sie haben mich verwarnt. Ich habe doppelte Böden in die Taschen genäht und diese Hosen markiert. Ein kleines K, das ich auf die innere Naht gestickt habe, hat diese Hosen für unsere Leute erkennbar gemacht. Mussten sie bei den Kontrollen der Ordnungshüter, bei den Überfällen der Meute oder bei den Raubzügen der Habgeier ihre Taschen umdrehen, so gab es den doppelten Boden, in dem sie die Nachrichten und den Notgroschen verstecken konnten. Nach einiger Zeit aber haben sie in der Produktionsstätte meine Kassiberhosen entdeckt. Ich bin in die Zone D abgeschoben worden. Im Lager war ich einer der ganz wenigen A-Europäer. Ich wollte dort nicht verrecken. Also bin ich geflohen. Ich habe mich geschämt dafür, alleine zu gehen. Aber es war die einzige Möglichkeit. Ich habe einen der Wachmänner bestochen …«

      »Womit?«, habe ich atemlos gefragt.

      »Womit glaubst du?«

      »Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht …«

      »Er hat an Schlaflosigkeit gelitten. Sobald er eingeschlafen ist, hat er immer den gleichen Alptraum gehabt. Aus diesem Traum ist er hochgefahren und hat nicht mehr einschlafen können. Er hat sich nie an den ganzen Traum erinnern können, immer nur an Bruchstücke, an Bildfragmente und Wortfetzen. Ich habe ihm zuerst nur zugehört. Sprechen ist mir ja verboten gewesen. Dann hat er mich gebeten, ihm die Versatzstücke seines Traumes zu deuten. Ich habe ihm verständlich gemacht, dass mich das in Lebensgefahr bringen würde. Aber falls es mir gelingen sollte, durch meine Deutung seinen Traum zusammenzusetzen und ihn von seiner Schlaflosigkeit zu befreien, dann müsse er mir dabei helfen, aus dem Lager zu kommen. Er hat eingewilligt. Also haben wir unsere Traumsitzungen begonnen. Er hat mich unter verschiedenen Vorwänden immer wieder an den Rand des Lagergeländes geholt. Wir sind hinter den Aborten gestanden, und ich habe ihn aufgefordert, so genau wie möglich jene Traumfragmente zu erzählen, an die er sich erinnern konnte. So haben wir im Laufe einiger Monate seinen Traum zusammengebaut. Zuerst hat er sich nur an Formen erinnern können, an geometrische Formen, die in Auflösung begriffen waren. Ausgeleierte Kreise, an einem Schenkel aufgerissene Dreiecke, an einer Seite zerbeulte Vierecke. Stück für Stück haben wir diese Formen aneinandergereiht, so lange, bis wir schließlich eine Landkarte vor Augen hatten. Die ausgeleierten Kreise, die aufgerissenen Dreiecke und die zerbeulten Vierecke haben, zusammengefügt und ineinandergeschoben, die Karte Europas ergeben. Als wir diese Karte erstellt haben, hat er plötzlich begonnen, von Menschen zu träumen, von Menschen, deren Körper in Reagenzgläser eingelegt gewesen sind. Leblos und bleich sind sie in dem Konservierungsmittel geschwommen. Eines Nachts hat er die Gesichter dieser konservierten Menschen gesehen. Eine unsägliche Einsamkeit habe er in diesen Gesichtern wahrgenommen, hat er mir bei unserer Sitzung gesagt. Ich habe ihn gefragt, woran er denn diese Einsamkeit erkannt habe im Traum. Da hat er zu zittern begonnen. Es seien die Gesichter der Menschen gewesen, die er hier im Lager bewache, das habe er im Traum gespürt. Wir haben begonnen, die Menschen in den Reagenzgläsern auf dem Kontinent anzusiedeln, den wir zuvor aus den geometrischen Figuren gebaut haben. Nach ein paar Wochen sind die Menschen in den Reagenzgläsern aus seinem Traum verschwunden. Nun hat er sich daran erinnert, von


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